Man sollte mit Werbung nie übertreiben. Natürlich gibt es eine ganze Branche, die vom Lesen lebt. Als Germanist, Literaturexperte und Buchautor gehöre ich wohl auch dazu. Nüchtern betrachtet müsste aber schon zu denken geben, dass fast ein Drittel der Menschen in unserem Land in diesem Jahr wohl noch kein einziges Buch gelesen haben. Dagegen etwas zu tun ist notwendig, denn Menschen, die nicht lesen können oder wollen, sind von Wissen und Bildung und damit vom beruflichen Erfolg ausgeschlossen. Natürlich frönen heute viele dem digitalen Lesen auf dem Smartphone und anderen Online-Medien. Aber glauben Sie mir, dem digitalen Lesen fehlt so ziemlich alles, was sinnlich, empathisch und glücklich macht. Allerdings kann auch das analoge Lesen keine Wunder wirken. Wer liest, um glücklich zu werden, der ist ein Träumer und lebt mit dem Kopf in den Wolken.
Das Unglück der Leserin und des Lesers. Ja, auch das gibt es. Leser*innen sind nicht zu vergleichen mit einer Herde weisser Schafe, die in einem Königreich voller Bücher leben. Beispiele? In Flauberts Roman „Madame Bovary“ beginnt das Unglück einer hübschen und erotischen Frau damit, dass sie endlos und immerzu Romane liest. Diese ausufernde Lektüre beschädigt ihr Bild von der Wirklichkeit nachhaltig. Das schlagende Argument dafür, dass das Lesen auch Unglück mit sich bringen kann, lieferte aber Cervantes mit seinem „Don Quijote“. Auch Don Quijote, der berühmte Ritter von der traurigen Gestalt, hatte so viele Romane gelesen, dass er, entfremdet von der Wirklichkeit, gegen Windmühlen ankämpfte und sich zum Gespött der ritterlichen Gesellschaft machte. Nun gut, das ist schon eine ganze Weile her. Der Gesellschaftsroman über die erotisch-selbstsüchtige Madame Bovary erschien bereits im Jahr 1856. Und Cervantes brachte die hirnrissigen Leseabenteuer seines Ritters von der traurigen Gestalt bereits 1605 zu Papier. Und heute? Heute liegen uns wissenschaftliche Studien vor, selbstverständlich auch eine Studie, die stichhaltig beweist, dass Lesen glücklich macht.
Lesen versetzt uns in einen Flow. Wer sich in ein tolles Buch versenkt, der taucht schon nach ein paar Seiten ab in eine Parallelwelt, vergisst Raum und Zeit, und taucht erst Stunden später wieder im grauen Alltag auf. Dies hat eine seriöse wissenschaftliche Studie der Universität von Liverpool ergeben. Um einen „Flow“, ein Glücksgefühl also, zu erleben, braucht es allerdings den Griff zum Buch, das perfekt passt. Die Geschichte darf beim Lesen nicht zu billig wirken, und es sollte auch keine allzu gestelzte und elaborierte Story sein. Nur wenn das Lesen auch sinnlich und lustvoll ist, kann sich bei der Leserin oder beim Leser ein Flow einstellen. Ähnlich wie beim Sport muss allerdings auch das Lesen mit einer gewissen Anstrengung verbunden sein. Nur dann werden körpereigene Hormone ausgeschüttet und wir fühlen uns gut und glücklich.
Selber eine Figur der Geschichte werden. Lesen kann uns glücklich machen, wenn wir als Leser*innen uns so gut in eine Geschichte einfühlen, dass wir selber eine Figur darin werden. Wenn uns ein Buch fesselt, dann sind wir emotional mit der Geschichte verbunden. Shira Gabriel und Ariana Young von der amerikanischen Buffalo-University haben während eines Versuchs herausgefunden, dass man umso glücklicher wird, je mehr man sich in eine Geschichte empathisch hineingezogen fühlt. Ihre Probanden mussten Texte aus „Harry Potter“ und „Twilight“ lesen, danach wurden sie getestet. Das Resultat des Versuchs war erstaunlich: Je stärker das Zugehörigkeitsgefühl zu den fiktiven Figuren in der Geschichte war, desto grösser war bei den Leser*innen dann auch die zufriedene und glückliche Grundstimmung.
Lesen, um die Menschen zu verstehen. Viele Menschen fühlen sich in der heutigen komplexen Welt unverstanden. Und viele können sich auch nicht genügend in ihre Mitmenschen einfühlen. Das Einfühlungsvermögen, die Empathie, lässt sich jedoch mit Lesen signifikant verbessern. Warum? Wer liest, beschäftigt sich mit den Situationen, Bedürfnissen und Konflikten der Figuren in der Story. Ähnlichkeiten und Strukturen aus dem Beziehungsgefüge der Figuren lassen sich aus dem fiktiven Geschehen abstrahieren und auf die Mitmenschen im Alltagsleben übertragen. Wer viel liest, verfügt also über eine grosse Vielfalt von Lebenswelten. Mit anderen Worten: Eine Leserin oder ein Leser versteht die verschiedenen Welten, denen die Mitmenschen angehören, besser.
Lesen gegen depressive Verstimmungen. Unter Nicht-Lesern werden depressive Verstimmungen deutlich häufiger diagnostiziert als bei Leserinnen und Lesern. Auch dies haben die Leseforscher der Universität von Liverpool herausgefunden. Die Geschichten, die wir lesen, stabilisieren unsere Psyche und schaffen ein Zugehörigkeitsgefühl. Als Lesende sind wir in Gesellschaft von (fiktiven) Personen und können zusammen mit ihnen der Einsamkeit entkommen. Beim Lesen tauchen in uns auch immer bereits vergessene oder unterdrückte Gefühle wieder auf. Das Lesen trägt damit viel dazu bei, Sinn, Lust und Glück in unserem Leben zu erhalten oder gar neu zu schaffen.
Text und Foto: Kurt Schnidrig