Wer am Schreibtisch stundenlang vor einem weissen Blatt Papier sitzt und auf kreative Einfälle hofft, der ist häufig ein Schreibtischtäter, dem die Phantasie und die Kreativität abgehen. Eine Schreibblockade ist in diesem Fall meistens vorprogrammiert. Erzählen und schreiben kann nur, wer seine Gefühle in Wallung zu bringen versteht. Mit dem Erzählen und Schreiben ist es wie mit dem Wetter, das sich zwischen Hochs und Tiefs entwickelt. Das Irish Folk Festival, das vergangenen Sonntagabend im Theater La Poste über die Bühne ging, demonstrierte eindrücklich, dass nur phantasievoll erzählen und schreiben kann, wer seine Energiespeicher regelmässig mit Musik, Tanz und Gesang füllt.
Musik und Tanz befeuern das Erzählen. Das dreistündige Konzert begann mit erdigen und mythischen Tönen, sie brauten Gefühle und Stimmungen zusammen, sie füllten die Energiespeicher für die irischen Songwriter, welche ihre gespeicherten Emotionen in einem grandiosen Finale, in der berühmt berüchtigten Session, versprühten. Gleichzeitig sprudelten auch die Geschichten von Göttern, Feen und Kobolden und es kam auch der wohlig-kribbelige Horror rüber, befeuert durch Erzählungen von Jenseitigem, von Übernatürlichem, von Gespenstern.
Irland ist mehr als James Joyce. Unbestritten ist James Joyce der berühmteste irische Autor. Im Herzen blieb er immer seiner „grünen Insel“ treu, auch wenn viele seiner Werke im Ausland entstanden. Seine Kurzgeschichtensammlung Dubliners ist ein pulsierendes Porträt der Hauptstadt und vor allem lebensechter als sein experimenteller Roman Ulysses. Aber eben, die irische Literatur spannt sich von der keltischen Mythologie bis zum heutigen Mainstream. Die Iren sind nun mal ein erzählfreudiges Völklein, das waren sie immer schon, und das nicht nur am St. Patrick’s Day in einem der vielen Pubs. Die Quellen der irischen Literatur nähren sich aus den keltischen Sagen der Druiden.
Die Wiege der irischen Literatur bilden die Mythen und Sagen. Seit dem Mittelalter werden sie immer noch vorwiegend mündlich weitererzählt. Damals war es unter den Druiden und Barden gar ein Sakrileg, die Geschichten schriftlich festzuhalten. Naturgeister, beseelte Dinge und magische Tiere lassen sich nun mal nicht zwischen Buchdeckel pressen. Wie sollte man auch den berühmten irischen Kobold Leprechaun, der am Ende des Regenbogens einen Tropfen Gold bewacht, schwarz auf weiss beschreiben? Einzig die menschliche Phantasie verfügt über ausreichend Farbe und Gestaltungsmittel, um sich diese Welt der Mythen und Märchen vorzustellen.
In dunklen irischen Winternächten geht es immer wieder auch mal schaurig und gruselig zur Sache. Ein Ire war es, der im 19. Jahrhundert eine der berühmtesten Gruselgestalten der Weltliteratur erschuf: In Bram Stokers Roman taucht erstmals der Vampir Dracula auf. Bram Stoker liess sich für seine Dracula-Figur vom irischen Autor Sheridan Le Fanu inspirieren. Und der Ire gab ja eigentlich auch nur wieder, was man sich in dunklen irischen Nächten in den Pubs erzählte. Diese vielversprechende Mischung aus Liebes-, Abenteuer- und Horrorgeschichte ist es, die seither als ein erfolgreiches Genre in die Weltliteratur eingegangen ist.
Vorbilder für heutige Fantasy-Figuren. Am Anfang stand das blumige und ausschmückende Erzählen. Daraus entstand das berühmte Genre der irischen Short Story. Die Insel-Romantik von damals dient heute Fantasy-Autorinnen wie Cecilia Ahern und Maeve Binchy als ein reicher Fundus für ihre „Frauenromane“. Etwas nonchalant spricht die Literaturtheorie von Chic Lit, denn selbstredend weisen derartige Geschichten nicht eben besonders viel Tiefgang auf, aber darum geht es ja auch gar nicht. Es geht in diesen Fantasy-Storys um eine erholsame Flucht aus dem grauen Alltag mit einer freudvollen Aussicht auf ein grandioses Happy-End.
Die irische Märchenliebe hat aktuell Eingang gefunden in den Chroniken von Narnia von C.S. Lewis. Es ist dies die spielerische und kindliche Seite der seit Urzeiten überlieferten irischen Erzähltradition. Dabei ist das, was Erwachsene und Kinder gleichermassen fasziniert, oftmals das Naheliegendste: Durch den eigenen Kleiderschrank schlüpfen und in einer magischen und zauberhaften Welt landen.
Irische Fantasy auch im Deutschwallis. In den letzten Monaten durfte ich den Fantasy-Roman der Deutschwalliser Autorin Joanne Gattlen als Lektor begleiten. In Meravella hat sich die junge Autorin von der phantastischen irischen Erzähltradition inspirieren lassen. Eine Reise auf die grüne Insel hat bestätigt, dass sich Joanne Gattlen würdig und echt in die Reihe der grossen irischen Fantasy-Autorinnen stellt. Auch bei ihr fasziniert das Naheliegendste. Auch bei Joanne Gattlen öffnen sich die Türen nach Meravella mit Hilfe von etwas sehr Naheliegendem: „Ich wischte den Staub von dem kleinen Anhänger und erblickte das gleiche Zeichen, welches sich nach Mayas und meiner ersten Begegnung auf meinem Arm abgezeichnet hatte. Vorsichtig fuhr ich über den kleinen Fussabdruck, der von Ranken umgeben war, und spürte wie mich die Erleichterung überkam: ich hatte das Armband doch nicht verloren und somit noch immer die Chance nach Meravella zu gehen.“ (Joanne Gattlen: Meravella. Lektorat: Kurt Schnidrig, Rotten Verlag 2019).
Text und Foto: Kurt Schnidrig