Männer, die lesen, sind … gebildet, liebenswert, attraktiv, perfekt, sexy, interessant und charmant. So steht’s geschrieben im Schaufenster meiner Lieblingsbuchhandlung in Brig. Schwarz auf Rot. Und dann sind diese verführerischen Zettelchen erst noch dekoriert mit Büchern von sexy Autoren wie Stephen King, Robert Harris, William Kelley, Hakan Nesser und… Globi. Wie zauberhaft! Wir lesenden und schreibenden Männer sagen Dankeschön, liebe Buchhändlerinnen, für die Komplimente. Auch wenn wir zugeben müssen, dass wir ob derartiger charmanter Verführungen zum Lesen leicht erröten, fast so wie die roten sympathischen Zettelchen, die bestimmt von wundervollen Männer-Versteherinnen beschriftet worden sind.
Schön wär’s, aber.. Schon klar, die Männer, insbesondere die jüngeren dieser Gattung, trifft man eher auf dem Fussballplatz oder (früher) auch noch an der Bar an anstatt hinter einem Buch. Was ich mich frage: Wo nur sind all die jungen Männer geblieben, wenn es um Bildung, Kultur und Musik geht? An den Lesungen treffe ich vorwiegend Leserinnen. Als Experte für Deutsch am Kollegium habe ich bei den Matura-Prüfungen je länger je mehr ausschliesslich Studentinnen zu bewerten. Im gemischten Chor, wo ich mitsinge, bin ich Teil eines knappen Dutzends Männer, die gegen eine überwältigende Schallmauer von rund fünfzig Frauenstimmen rein zahlenmässig auf verlorenem Posten singen. Für den diesjährigen Schweizer Buchpreis haben es vier Autorinnen und nur ein einziger Autor auf die Shortlist geschafft. Bloss ein Zufall? Wo nur sind all die Männer?
Das Leiden der Männer. Nun, reden wir nicht lange um den heissen Brei herum. Sagen wir, was Sache ist: Den Männern geht es hundsmiserabel. Die Männer leiden. Moderne Männer sind freudlos und traurig wie der Spätherbst. Heutige Männer leben in eisiger Gefühlskälte wie im tiefsten nordischen Winter. Und die Männer, die schreiben, die schreiben von Verlust, Todesfällen und von Trennungen und von anderem Horror. Sie denken jetzt vielleicht, liebe Leserin, ich hätte irgend eine Herbstdepression eingefangen? Weit gefehlt! Auf der Frankfurter Buchmesse war’s, da haben die norwegischen (männlichen) Autoren so einen herbstlichen Blues mit Endzeitstimmung intoniert, der mich seither ernsthaft daran zweifeln lässt, ob Männer, die lesen und schreiben, wirklich so sexy und attraktiv sind, wie es die Schaufenster-Werbung wahrhaben möchte.
Herbstliche Freudlosigkeit. Norwegen war das Gastland an der Frankfurter Buchmesse. Spätestens seit den PISA-Studien wissen wir alle, dass die Nordländer im Lesen und Schreiben führend sind. Warum? Wohl vor allem deshalb, weil in den nordischen Ländern, vorab in Norwegen, auch die Männer tüchtig mitmischen im Literaturbetrieb. Ja, es sind sogar vorwiegend die Männer, welche lesen und schreiben. Aber wie sie das tun! Es ist herzzerreissend, Bücher nordischer Autoren zu lesen. Wer sich Bücher nordischer Autoren vornimmt, den packt bereits nach wenigen Seiten das blanke Entsetzen. Nordische Autoren scheinen allesamt in einer tiefen Lebenskrise zu stecken, sie gefallen sich in Selbstmitleid und Selbsterniedrigung. Die Finsternis der langen nordischen Nächte sei es wohl, die auch auf die seelische Gestimmtheit einen Einfluss habe, versuchte mir eine Kennerin der nordischen Literaturszene in Frankfurt zu erklären.
Das kranke Ego des Mannes. Wie sehr (nordische) Männer mit ihrem eigenen Seelenleben ringen, lässt sich am Beispiel des Autors Klaus Ove Knausgard studieren. In seinem Buch „Mein Kampf“ (nicht zu verwechseln mit dem Buch gleichen Namens) deckt Knausgard seine geradezu kriegerisch-zerstörerische Haltung zum männlichen Leben auf. Überleben kann nur ein hartgesottener Typ wie sein Roman-Protagonist, ein kantiger, rauer Egomane, der, einmal im Überschwang der Selbstüberschätzung, dann wieder im Tiefgang der eigenen Unzulänglichkeit, immer aber sich selbst zerfleischend, durchs Leben torkelt. Oder nehmen wir das Buch von Thomas Espedal zur Hand. Die Titel seiner autobiografisch gefärbten Romane sprechen bereits Bände: In „Wider die Kunst“ und in „Wider die Natur“ ist das Motiv des Verlustes zentral. Ach, ersparen Sie mir, liebe Leserin, eine Aufzählung des Schrecklichen. Nur so viel: Die Ehefrau stirbt, die junge Geliebte verschwindet. Was bleibt? Ein ratloser Mann, dem sich nur der Suizid anbietet, um einigermassen ehrenhaft von der Bühne dieses Lotterlebens abtreten zu können. So viel zum norwegischen Autor Espedal. Sein Schriftsteller-Kollege heisst Dag Solstad. Dessen Buch heisst „Durch die Nacht“, und der Titel verrät schon, wovon der gepeinigte Autor schreibt. Sein Leben sei eine „endlose Kette von Fehltritten“, heisst es da, dabei sei die Tatsache, dass er seine Frau betrogen habe, noch das kleinste Übel. Viel schlimmer sei das Gefühlschaos zu gewichten, diese „Ambivalenz männlicher Gefühle“. Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buches in Norwegen nahm sich der arme Mann das Leben.
Der Mann ist ein ewiges Rätsel. Bringen wir es auf den Punkt. Wir Männer sind im Kern voller Romantik und voller Sehnsüchte. Unser modernes Leben hat jedoch das Konzept von Männlichkeit durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt. Heutige Männer sind auf der Flucht. Sie flüchten vor sich selbst, sie flüchten vor ihren eigenen Schwächen und auch vor ihren eigenen Stärken. Der Mann, das unbekannte Wesen. Der schreibende und lesende Mann versucht, sich selbst neu zu erfinden. Trotzdem wird auch er ein ewiges Rätsel bleiben. Vielleicht sind lesende und schreibende Männer gerade deswegen auch liebenswert, attraktiv und sexy, wie es die Schaufenster-Werbung vorgibt.
Text und Foto: Kurt Schnidrig