Bei uns sind alle Beizen und Restaurants geschlossen. Manchmal allerdings kann auch ein Buch wie ein Abendessen im Hotel sein. Das neuste Buch von Martin Suter entstand anlässlich eines Beizen-Besuchs. Wer mit Martin Suter dinieren will, der muss allerdings in einem Edelhotel absteigen. Zum Beispiel im Hotel Heiligendamm an der Ostsee. Dort hat Martin Suter zusammen mit dem Schriftsteller, Journalisten und Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre einen Abend verbracht. Bei dieser Gelegenheit haben die Beiden über all das gesprochen, was vielleicht nicht das Wichtigste ist, aber eben auch nicht unwichtig.
Small Talk trotz Corona. Sie haben über das Kochen gesprochen, die neuste Bademode, über anstehende Hochzeiten, auch darüber, dass die Leute immerzu „Äähm“ sagen, wenn sie nicht weiter wissen, dazu auch über den Teufel und die Madonna, und Martin Suter besonders über LSD, über Verliebtheit und natürlich über Ibiza. Wir hätten während der unsäglichen Corona-Krise den Small Talk verlernt, ist weitherum zu hören. Logisch, wer von uns hat denn noch Lust auf einen Small Talk, mit zwei Metern Abstand, mitten auf der Strasse, da, wo jedermann – und vor allem jede Frau – zuhören kann, was insbesondere wir Männer uns so zu beichten und zu berichten haben? Wer so denkt, wer sich so fühlt, dem sei das neuste Buch von Martin Suter empfohlen (Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: „Alle sind so ernst geworden.“ Roman bei Diogenes, 272 Seiten. Bestellnummer: 978-3-257-07154-2.)
Zwei Männer in der Beiz. Der 45-jährige Benjamin von Stuckrad-Barre und der 72-jährige Martin Suter. Das Buch hat mich persönlich wohltuend betroffen und berührt, weil ich mit Martin Suter vor ein paar Jahren in Brig ebenfalls in einer Beiz dinieren durfte. Und, obschon das traute Abendessen mit Martin Suter bereits ein paar Jährchen zurückliegt, lässt sich sagen: Was Benjamin von Stuckrad-Barre mit Martin Suter im neuen Buch „bespricht“, „abhandelt“ oder gut schweizerdeutsch „verzapft“, einen Teil davon hat Martin Suter bereits vor ein paar Jahren bei einem Abendessen im „Good Night Inn“ in Brig in meiner Gesellschaft „verzapft“, dies nach einem grossartigen Auftritt in der ZAP Arena. Das Verb „verzapfen“ bringt meines Erachtens diese Art von Gedankenaustausch viel besser zum Ausdruck als der langweilige Anglizismus „Small Talk“. Denn häufig „verzapft“ man sich gegenseitig viel Spassiges und Ironisches bei einer guten Flasche Wein, deren Zapfen mit erlösendem Knall den begehrten Rebensaft freigibt. Dieser wiederum lässt oftmals ernsthafte Alltagsmenschen zu Originalen mutieren, die vor Phantasie nur so sprudeln, und zwar dermassen, dass sie „verzapfen“ was bisher wohlweislich unter Verschluss gehalten worden war.
Stuckrad-Barre: „Atmet der Text, oder schwankt da der Sinn? Wozu sagen die Leute immerzu äähm? Man sucht? Suter: „Man überlegt. Und mein Verdacht ist: Man will diese Denkpause verstopfen, damit niemand reinspringt. Es ist das Verfertigen eines Gedankens beim Lallen. Genau. Es ist eine Ablenkung oder ein Ausdribbeln des Gegenübers, das ja auch was sagen möchte.“
Stuckrad-Barre und Suter in: „Alle sind so ernst geworden“.
Die Popkultur überwiegt. Muss man über sowas ein Buch schreiben? Man kann. Natürlich wirkt das alles etwas dekadent. Was die beiden angesagten Schriftsteller da von sich geben, ist ein Sich-Mockieren über die anderen Leute, über Kulturschaffende, über Promis, über Medienleute. Witzig an all dem ist wohl einzig die Tatsache, dass man als Leser*in sowas bis anhin in dieser Form noch nicht vorgesetzt erhalten hat. Vor allem nicht zwischen Buchdeckeln. Es existiert für „sowas“ im Übrigen ein träfer Fachausdruck: „Popkultur“ nennt sich sowas.
„Sobald man die Haustür öffnet, oder auch nur die Mails, prasseln doch von allen Seiten lauter Ernsthaftigkeitsangebote auf einen ein. Also halte ich, solange es irgend geht, dagegen. Verteidigung der Unbeschwertheit, eine temporäre Realitätsverweigerung, bevor man ja doch in die Schuhe der Realität steigen muss, ins Geschirr all der Aufgaben und Anforderungen.“
Aus: „Alle sind so ernst geworden“ von Martin Suter und Benjamin Stuckard-Barre.
Ein feingeistiges Pingpong ist das, was die beiden Bestseller-Autoren da von sich geben. Wer allerdings Antworten erwartet auf tiefschürfende Fragestellungen, der dürfte enttäuscht sein. Auch Autobiographisches ist mit dabei. Martin Suter ist da allerdings recht zurückhaltend, wenn es um Persönliches geht. Wie schon damals, als wir beide uns im „Good Night Inn“ in Brig trafen, bleibt er dabei, wirklich niemals, niemals, einen LSD-Trip ausprobiert zu haben. Martin Suter hat in seinem wohl besten Roman „Die dunkle Seite des Mondes“ erstaunlich authentisch einen LSD-Trip beschrieben. Seither gehört die Frage nach Drogenerfahrungen zum Repertoire von Medienleuten, die gerne möchten, dass Suter nun doch mal auch etwas Spektakuläres von sich „verzapft“.
„Ein paar Jahre, nachdem das Buch erschienen war, bekam ich einen Brief, und der war von Dr. Albert Hoffmann, dem Entdecker von LSD. Er habe das Buch gelesen, es habe ihm gut gefallen, und er sei beeindruckt von der Beschreibung dieses Psilocybin-Trips. Psilocybin ist der Wirkstoff, der sehr ähnlich ist dem Wirkstoff in LSD, den Albert Hoffmann ja synthetisiert hat.“
Martin Suter in: „Alle sind so ernst geworden“.
Im „Good Night Inn“ mit Martin Suter. Als Ergänzung zum neusten Buch von Suter, das im Hotel „Heiligendamm“ an der Ostsee entstanden ist, „verzapfe“ ich nun einen Ausschnitt aus dem Smalltalk, den ich vor Jahren im Hotel „Good Night Inn“ in Brig mit Martin Suter geführt habe. Das Gespräch drehte sich ebenfalls um den Drogen-Trip, den Suter im Roman „Die dunkle Seite des Mondes“ beschreibt. Mehr über meine Begegnung mit Martin Suter und das Gespräch mit ihm über den Roman „Die dunkle Seite des Mondes“ lesen Sie in meinem soeben erschienenen Buch „Ein Leuchtturm in der Finsternis. Spurensuche Begegnungen, Betrachtungen“, Seiten 230-233:
„Der Pilztrip der Hauptfigur erhält lediglich dramaturgische Bedeutung. Der Trip ist ein Mittel zum Zweck, er ist nur ein Vehikel. Es ist ein Buch, das beschreibt, wie Leute sind, die das Gefühl haben, es gebe nur eine einzige Person auf dieser Welt. (…) Mich hat beim Schreiben das Folgende interessiert: Was passiert mit einem etablierten, herkömmlichen, braven Menschen, wenn dieses Bisschen, das ihn daran hindert, jemandem eine Ohrfeige zu hauen, worauf er grosse Lust hat, wegfällt… Durch ein kleines, unscheinbares Pilzli kommt der Hauptfigur plötzlich all das abhanden, was sie bis anhin als Lebensprinzip hochgehalten hat.“
Auszug aus: Kurt Schnidrig: „Ein Leuchtturm in der Finsternis. Spurensuche, Begegnungen Betrachtungen“, Seiten 230-233.
Das neuste Buch von Martin Suter mit dem Titel „Alle sind so ernst geworden“ ist entstanden in gelöster Atmosphäre im Hotel Heiligendamm an der Ostsee. Es erinnert mich wohltuend an das „Arbeitsessen“ mit Martin Suter, damals, im Good Night Inn in Brig, anlässlich des Erscheinens seines grossartigen Romans „Die dunkle Seite des Mondes“.
Text und Bild: Kurt Schnidrig