Christoph Geisers Zermatt-Roman „Grünsee“

Vor der symbolträchtigen Kulisse des Matterhorns verwebt Christoph Geiser die Typhus-Epidemie von Zermatt des Jahres 1963 mit der Dekonstruktion seiner grossbürgerlichen Familie. (Bild: Kurt Schnidrig)

Der Geruch von Zermatt ist in der Luft. Er wandert zur Talstation der Schwarzsee-Bahn. Bricht zu einer Hochgebirgs-Wanderung auf. Breithorn, Castor und Pollux, Weisshorn, Dom… sein Blick richtet sich auf die Vispe, die Tierkadaver anschwemmt. Eine Seuche grassiert. Es ist nicht die Grippe, wie die Ärzte zu glauben vorgeben, es ist Typhus. Tragen die achtlos in der Vispe entsorgten Tierkadaver die Schuld dafür? Haben italienische Gastarbeiter die Seuche eingeschleppt? Vor 60 Jahren ist in Zermatt das Verschweigen angesagt. Zur Desinfektion steht lediglich Desogen zur Verfügung. Man hat die Typhus-Epidemie in die Grippezeit fallen lassen. Dazu die Empfehlungen: Wasser abkochen, Salate vom Speisezettel streichen. Dem Erzähler begegnen wir auf einem Fussweg hinauf zum Grünsee. Verschweigen hilft nicht weiter, wer verschweigt, der kann nicht verarbeiten. Jährlich kehrt er zum Skifahren nach Zermatt zurück. Vor den Geschehnissen der Typhus-Epidemie verortet der Erzähler die schreiende Sprachlosigkeit auch als die eigentliche Familienkrankheit. Christoph Geiser hält fest: „Das Finden der eigenen Sprache ist mein ureigenstes literarisches Anliegen.“

Eine Wiederentdeckung

In abklingenden Zeiten von COVID-19 ist die Neuedition des Romans „Grünsee“ von Christoph Geiser eine Wiederentdeckung. Dazu trägt die auf dreizehn Bände angelegte Werkausgabe des Secession Verlags bei. Die Zeit ist reif für Geisers „radikal autobiografisches“ Schreiben. Die Beschäftigung mit der eigenen Familie und der Homosexualität spielen darin immer wieder eine Rolle. Am Anfang des Romanwerks steht jedoch der „Zerfall der Familie“, die Auflösungserscheinungen einer grossbürgerlichen Familie. Es ist eine untergehende Welt in einem bürgerlich-liberalen Elternhaus, geprägt besonders von der aus dem Berner Patriziat stammenden Mutter. Vater und Sohn haben sich kaum etwas zu sagen, erstarren in Sprachlosigkeit, in Verstummen und Verdrängen. Im Roman „Grünsee“ mutieren Verstummen und Verdrängen zu typischen Verhaltensmustern, zusätzlich befeuert durch die Mechanismen des Verdrängens und Vertuschens der Typhus-Epidemie inmitten einer aufgeladenen Seuchen-Situation vor der Kulisse des Matterhorns. Auslöser zum Schreiben ist zudem der Selbstmord eines Neffen des Autors im Jahr 1967. Auch der Selbstmord musste verdeckt und vertuscht werden, so wie die Typhus-Epidemie, so wie seine Herkunft, so wie seine sexuelle Ausrichtung.

Ein überzeugter 68er

„Ich stamme aus einer schrecklichen Familie. Mein Grossvater mütterlicherseits war Schweizer Botschafter bei Hitler, meine Grossmutter, seine Frau, heiratete in zweiter Ehe den Vater von James Schwarzenbach, dem ersten Schweizer Rechtspopulisten.“ So beginnt die „Selbstlebensbeschreibung“, die Christoph Geiser seinem Publikum am Literaturfestival vorträgt. Das Politische gehe quer durch seine Familie, erzählt der Autor. Der Philosoph Hans Saner, Assistent von Karl Jaspers, habe ihm einen Band mit Gedichten Bertolt Brechts geschenkt, was dieser damit begründet habe, dass ein „Dichter wie Rilke, der ein Leben lang mit verschiedenfarbigen Tinten hohen Damen Briefe geschrieben habe, nichts für einen verständigen jungen Mann sei.“ Brecht wurde für Christoph Geiser zur Initiation, der Marxismus zur theoretischen Grundlage, um aus dem bürgerlichen Lebensweg auszubrechen.

Gegen die vaterländische Disziplinierung

Die Nachkriegsschweiz beschreibt Christoph Geiser als ein militaristisches Land. Der Mythos, die Armee hätte das Land vor Hitler bewahrt, glorifizierte die Armee als heilige Kuh der Nation, ist der Autor überzeugt. Betroffen erzählt Geiser davon, wie er vor dem Militärgericht Thun vom Philosophen Hans Saner im Geiste von Immanuel Kant verteidigt worden sei. Konsequent habe er versucht, seine politische Argumentation ethisch zu begründen, ohne sich auf einen religiösen Imperativ zu berufen, der eine Hafterleichterung ermöglicht hätte. Doch das oberste Militärgericht habe politische Vernunft nicht als ethisch angesehen, er sei zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden.

Was bleibt?, fragt sich der Autor am Ende seiner spannenden Ausführungen. Brechts Tonfall begleite ihn bis heute. Und eine dreijährige psychoanalytische Kur auf der Couch eines Psychiaters und Schriftstellers hätte ihm den Weg geöffnet aus der Sprachverkrampfung und aus der bürgerlichen Diskretion hin zum epischen Erzählen und damit auch zur literarischen Befreiung vom familiären Stoff seiner Herkunft.

Mit dem Zermatt-Roman „Grünsee“ gelang Christoph Geiser der internationale Durchbruch. (Bild: Kurt Schnidrig)

Werkausgabe in 13 Bänden. „Grünsee“ ist Band 1 der Werkausgabe. Roman. Herausgegeben von Moritz Wagner und Julian Reidy, 2022 by Secession Verlag Berlin, 301 Seiten. Der erstmals 1978 publizierte Text markiert Geisers internationalen Durchbruch als Schriftsteller. Auf einer dreitägigen Erinnerungs-Recherche verwebt der Erzähler die Typhus-Epidemie von Zermatt des Jahres 1963 mit der gleichzeitigen Dekonstruktion seiner von ganz anderen Erschütterungen heimgesuchten grossbürgerlichen Familie.

Dieser Beitrag entstand anlässlich von Christoph Geisers Auftritt am Internationalen Literaturfestival Leukerbad 2023. Der Beitrag ist eine Auftragsarbeit für den Walliser Bote und erschien am 25.06.2023 erstmals in der Online-Ausgabe von pomona.media.

Text und Bilder: Kurt Schnidrig