Livia Anne Richard erfindet sich neu: Von der Theaterregisseurin zur Prosaautorin

Livia Anne Richard arbeitet an einer Roman-Trilogie. (Bild: Kurt Schnidrig)

Livia Anne Richard hat dem Deutschwallis auf dem Riffelberg in Zermatt als Regisseurin wahre Theater-Monumente geschenkt. Mit Stücken wie „Matterhorn: No Ladies, please!“ (2019), „Romeo und Julia auf dem Gornergrat“ (2017) oder „The Matterhorn Story“ (2015) hat sie vor grandioser Bergkulisse zauberhafte und unvergessliche Meisterwerke der Theaterkunst geboten. Auf dem Berner Hausberg, dem Gurten, gelang ihr mit „Dällebach Kari“ 2006 der Durchbruch als Theaterregisseurin. Nun hat sie Zermatt den Rücken gekehrt. Und überhaupt will sie sich nur noch höchstens alle zwei Jahre eine grössere Inszenierung antun. Vielleicht auch deshalb, weil der Theaterbetrieb immer auch mit Ein- und Beschränkungen verbunden ist. Wer hingegen Romane schreibt, kann dies völlig losgelöst und zügellos tun, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

„Anna der Vater“ ist ein Buch, das die Leser*innen animieren soll, ihren Weg zu gehen“, gab mir Livia Anne Richard nach meinem Besuch in Bern mit auf den Weg. „Die Leser*innen sollen sich die Freiheit nehmen, sich immer wieder neu zu erfinden, und dies nicht im Sinne eines falsch verstandenen Egoismus, sondern im Sinn von Freigeist, von grossem Denken, nicht im Sinne eines Maulwurfdenkens.“

Der Titel ihres zweiten Romans könnte Irritationen auslösen. Handelt der Roman das zurzeit angesagte Thema „Transgender“ ab? „Ich habe zwar nichts gegen Transgender-Menschen“, wehrt Livia Anne Richard ab, „aber es geht nicht um dieses Thema in meinem Buch.“ Der Roman „Anna der Vater“ ist der zweite Teil von Annas Lebensgeschichte. War „Anna der Indianer“ aus dem Jahr 2020 eher ein Entwicklungsroman, eine Coming-of-Age-Geschichte also, verwirklicht Anna nun im aktuellen zweiten Band ihre Idee einer ungewöhnlichen Familienkonstellation, indem sie die Rolle des Vaters für die Kinder ihrer besten Freundin Nora übernimmt. Der dritte Teil der Anna-Trilogie soll 2023 erscheinen, vermutlich dann mit dem Titel „Anna der Häuptling“. Zwar ist das Buch also eingebettet in eine Trilogie, es handelt sich jedoch um eine autonome Geschichte, die sich auch losgelöst vom ersten Band lesen lässt.

Während eines Austausch-Studienjahrs in den USA sieht sich Anna, mittlerweile 19 Jahre alt, mit zwei Ereignissen konfrontiert. Einerseits ist ihr leiblicher Vater Nico, den sie zuvor nicht gekannt hatte, in die USA gekommen. Anna hat nun endlich einen Vater. Wie aber ist eine derart unvorhergesehene Vater-Tochter-Beziehung geartet? Anna will noch keine Erwachsene sein, „Erwachsene sind Langweiler“, sagt sie, und so lässt sie ihren „grossen Gefühlen“ freien Lauf. Es sind dies Gefühle, die sie auch gegenüber dem Mann, der nun in ihr Leben tritt, und in dem sie sich wiederzuerkennen glaubt, nicht verbergen will. Inmitten eines veritablen Gefühls-Chaos verliebt sie sich auf den ersten Blick in den eigenen Vater. Und Nico, der Vater? Er sieht Anna durch die „Vater-Nachholbedarf-Brille“ – und die ist doppelt rosa. Andererseits ist Anna auch seitens ihrer Gastfamilie gefordert. Deren Tochter Nora ist mit ihren 18 Jahren fast genau so alt wie Anna. Nach einem Ball der Studierenden wird Nora schwanger. Sie ist mit einem Mann ins Bett gestiegen, wohl aus Mitleid. Nun möchte Nora das Kind abtreiben. Ihrer Mutter möchte sie die unerwünschten Schwangerschaft vorerst nicht beichten, denn Noras Mutter muss eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Doch Anna spürt, dass Nora ihr Kind ureigentlich behalten möchte. Und Anna sagt: „Ich wäre gern der Vater“, und „wir brauchen kein Paar zu sein, um eine Familie zu haben.“ Kann sich Anna, der Freigeist, in dieser Situation neu erfinden?

Ein Spiel mit Rückblenden. Mal ist Anna eine Teenie von 19 Jahren, mal steht Anna mit 51 Jahren über allem, was geschehen ist. Die gewählte Erzähltechnik wirft Fragen auf. Als Rückblenden oder Retrospektiven gelten Ereignisse, die zeitlich vor dem bisher Erzählten stattgefunden haben. Rückwendungen sind in der Prosaliteratur gang und gäbe als aufbauende Rückwendung am Anfang von Erzählungen, als „offener Einstieg“ also, oder dann als auflösende Rückwendung, bei der erst nach einer längeren Erzählung etwas berichtet wird, was zeitlich vor dieser Erzählung liegt. In „Anna der Vater“ wird die Informationsvergabe zu einem Spiel mit Rückwendungen, was beim Lesen zuweilen zu einer Konfusion führt. Dass die 51-jährige Anna zwei Kinder hat und deren Vater ist, erfährt die Leserschaft bereits nach einem knappen Viertel des Buches, dies eine Vorwegnahme des Finales, das dann allerdings noch weitere Überraschungen bereithält. Besonders verwirrlich ist das Spiel mit der Rückwendung dann, wenn zwei Kapitel aufeinandertreffen, die anachronisch zueinander stehen. Während in dem einen Kapitel über Ereignisse wie das tragische Schicksal von Annas Vater, von Noras neuer Bekanntschaft und auch von Annas Kindern berichtet wird, werden wir Lesenden im folgenden Kapitel wie in einer Zeitmaschine chronologisch zurückgeschleudert in jene Zeit, als Anna und Nora noch Teenies waren. Nora ist soeben mit ihrer Schwangerschaft konfrontiert und mit der Frage beschäftigt, ob sie nun das Kind behalten könne oder abtreiben müsse. Was macht dieses Spiel mit Rückblenden mit uns Lesenden? Einerseits leidet der Lesefluss womöglich darunter, auch einzutauchen in eine stimmungsvolle Leseatmosphäre dürfte manchen Lesenden schwerfallen. Andererseits lässt sich der gewählten Erzähltechnik durchaus auch ein gutes Stück Genialität abgewinnen. In Brechtscher Theater-Manier werden wir aus dem stimmungsbetonten und romantisierenden Lesefluss herausgerissen und aufgefordert, mitzudenken und mit zu kombinieren. Was Bertolt Brecht für sein episches Theater gefordert hatte („Glotzt nicht so romantisch!“), das Sichtbarmachen des Theaters als Theater nämlich, mag sinngemäss auch für das Spiel mit der Rückblenden-Technik im Roman gelten: Wir sind aufgefordert, beim Lesen nach eigenen Lösungen zu suchen. Dazu passend eine Metapher aus Annas Gedankenwelt:

„Anna stellt sich ihr Gehirn vor wie ein Hotel. Sie, Anna, ist die Rezeptionistin. Die Gedanken sind die Gäste, die kommen und gehen und die man sich nicht aussuchen kann.“

Aus: Anna der Vater, S. 157

Der Weg von der Theaterregisseurin zur Prosaautorin hinterlässt Spuren. Dann etwa, wenn die Autorin kursiv hervorhebt, was die Schauspielerin betont. Ist auch beim stillen Lesen die richtige Betonung wichtig? Obschon niemand zuhört? Die kursiven Hervorhebungen sind aber bestimmt sinnstiftend: „Müssen wir ein Paar sein? Ja, weil Paare Kinder kriegen.“ Oder: „Sind wir schlecht gelaunt? Wir vielleicht, ich nicht.“ Die Fähigkeit, Abstraktes in eine Bildsprache zu kleiden, kann ebenfalls eine Autorin auszeichnen, die vom Theater kommt. Ob die Bilder zuweilen allzu inszeniert sind? Dann etwa, wenn Protagonistin Anna einem gutaussehenden Mann begegnet. Aber „dessen Gesamterscheinung passt nicht in die Nico-Schablone, die sie wie einen Schatz im Herzen trägt.“ Sprachlich besonders eingängig und ansprechend kommen philosophisch anmutende Passagen rüber, wie sie etwa im Gespräch zwischen der gealterten Anna und ihrem Partner Robin festzustellen sind. Dazu gehören poetisch-philosophische Ideen wie „Meiner Meinung nach ist alles Leben göttlich. Gott ist in jedem Stein“. Hier nähert sich Anna wohl unbewusst an Rilkes Dingmystik an. Es sind aber auch Beobachtungen aus dem Alltag, die aufhorchen lassen: „So wie man zu zweit schlendert, schlendert man allein nie. Allein geht man von A nach B. Zu zweit hat Schlendern einen Selbstzweck.“

„Tausend Mal lesen“ – dies eine Kapitel-Überschrift. Einiges haben wir tatsächlich schon tausendmal gelesen oder gar selbst erfahren. Was bedeutet es, wenn Nora „kotzen“ muss? Wenn sie „ihre Periode nicht mehr hat“? Wenn „die Brüste ziehen“? Wenn „zwei blaue Striche“ auf dem Schwangerschafts-Test erscheinen? Und ja, der spätere Kindsvater hatte Nora aufgrund eines „Coitus interruptus“ geschwängert, wobei er das „Präjakulat“ ausser Acht gelassen hat. Dumm gelaufen. „Greener geht gar nicht“, denkt Anna im Buch. Stimmt. Sexualaufklärung für Greenhorns. Liest sich für heutige Leser*innen etwas gestrig. Aber eben, die Romanstory spielt im Jahr 1989. Damals haben sich Teenies mit derartigen Fragen an Dr. Sommer aus der „Bravo“ gewandt. Ein Spiel mit Rückblenden, auch hier. Man kann das tausendmal lesen. Aber schlussendlich geht es um mehr.

Das Recht, sich neu zu erfinden. „Anna der Vater“ ist ein Plädoyer für ein Leben jenseits der Konventionen. Dieser übergeordneten Message kommt die aktuelle Debatte über das Aufbrechen der „Binär-Codes“ in die Quere. Ist es nicht immer noch so, dass es bei vielen von uns einfach nur „Frau“ und „Mann“ gibt? Dass es nur „Mutter“ und „Vater“ gibt? Solch enges Denken versucht der Roman aufzubrechen. Die Natur hat eine unglaubliche Fantasie, sei dies nun in der sexuellen Ausrichtung oder in der Geschlechts-Identität. Kürzlich habe ihr eine Biologin erklärt, dass es 22’000 verschiedene Arten gebe, wie ein Mensch im Sinne von weiblichen und männlichen Elementen zusammengesetzt sein könne, sagte mir die Autorin. „Es gibt Männer, die sind weiblicher als jede Frau und es gibt Frauen, die sind männlicher als jeder Mann! Wir sind alle ein Unikat-Gemisch aus Hormon-Zusammensetzungen.“

„Wir müssen aufhören, die Natur unseren Normen anzupassen. Wir müssen uns den Normen der Natur und ihrer Vielfalt anpassen.“

Livia Anne Richard im Gespräch mit Kurt Schnidrig

Die Buchvernissage ist am 25. September 2022 ab 17.00 Uhr im Theater an der Effingerstrasse in Bern. Die Buchvernissage findet in enger Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Stauffacher statt. Livia Anne Richard liest aus ihrem Buch vor. Dazu rollt Wale Liniger den blusigen Teppich Richtung USA aus, dorthin nämlich, wo ein Grossteil des Romans spielt.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung „Literaturwälla“ mit Livia Anne Richard über ihren Roman „Anna der Vater“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Yannick Zenhäusern)
Falls Sie den ersten Band verpasst haben: Hören Sie den Podcast aus dem Jahr 2020 zum ersten Buch der Anna-Trilogie „Anna der Indianer“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Corinne Amacker)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig