Nesting

Das ist eine kulturelle und gesellschaftliche Katastrophe: Trotz Schulbildung sind rund 800’000 Menschen in der Schweiz nicht in der Lage, einfache Texte zu lesen und zu verstehen. Und beim Nachwuchs schaut es nicht viel besser aus: Ein Fünftel aller 15-Jährigen kann einen einfachen Text kaum verstehen. Diese Zahlen gehen aus einer Studie des Bundesamtes für Statistik hervor. Ein reiches, kultiviertes, innovatives Land mit einer chronischen Leseschwäche – da müssen wir alle über die Bücher. Kann das sogenannte „nesting“ helfen?

Jetzt soll eine Telefon-Hotline dieses Katastrophen-Szenario mildern helfen. Wer Mühe hat mit Lesen und Schreiben, kann sich neu an die Gratis-Nummer 0800 47 47 47 wenden. Diese Hotline ist ab sofort in der ganzen Schweiz gültig, wie der „Schweizerische Dachverband Lesen und Schreiben“ mitteilt. Anrufer mit Schwächen bei den sogenannten Grundkompetenzen werden beraten und über geeignete Kurs- und Bildungsangebote informiert. Die Hotline wird finanziell vom Bund unterstützt. Zu den Grundkompetenzen zählen nebst Lesen und Schreiben übrigens auch noch das Rechnen und der Gebrauch von Computern, die Hotline hilft deshalb auch bei Schwierigkeiten im Rechnen und in der PC-Anwendung.

Rasch hat man die vermeintlich Schuldigen gefunden: Die Migrantenkinder. Wer schlecht Deutsch könne, habe eben auch Mühe beim Lesen. Das klingt logisch, ist aber falsch! Das stimmt nicht mehr. Die Kinder von Einwanderern haben stark aufgeholt. „An sich sagt der Migrationshintergrund gar nichts über den Bildungserfolg aus“, fasste Bildungsexperte Urs Moser kürzlich gegenüber der NZZ zusammen. Urs Moser ist Bildungsforscher an der Universität Zürich und zudem Mitglied der nationalen Projektleitung von Pisa. Er sagt, was Sache ist: „Die soziale Herkunft wirkt sich direkt auf die Lesefähigkeit aus. Kinder aus Haushalten, in denen viel kommuniziert wird und Bücher wichtig sind, lesen später besser. Lesen lernt man nicht erst in der Schule.“ (In: NZZ, 11.12.2016).

Was heute – auch beim Lesen und Schreiben – auf der Strecke bleibt, das ist, was man heute gern als nesting bezeichnet. Natürlich kann man einen Hilfslehrer engagieren oder seine Kinder in die schulische Nachhilfe schicken, wenn man sich das denn leisten kann. Aber ein Kind auf den Schoss nehmen, mit ihm eine Bilderbuch anschauen, oder die Gutenachtgeschichte auf dem Kinderbett sitzend erzählen, vielleicht auch eine Erzählnacht im Kreise der Schulfreunde in der Bibliothek oder im Singsaal, ein Buch draussen in der freien Natur geniessen und dazu spielen und träumen (Bild) … Das Wunder des Lesens entsteht früh. Oder eben nicht. Zwischen null und sechs Jahren entdeckt das Kind die Laute, Silben, Wörter und erst später die Sätze.

Mir fällt dabei eine kleine Geschichte ein, die mir kürzlich eine Unterstufen-Lehrperson erzählte. Sie war früher im Kindergärtnerinnenseminar meine Schülerin. Sie erzählte mir das Folgende:

Mitten im ganzen Festtags-Stress hatte ich über Pfingsten kaum Zeit, mich um jedes meiner Kindergarten-Kinder persönlich zu kümmern. Da griff ich ausnahmsweise für einmal zu einem Hörbuch und spielte den Kindern eine Geschichte über die Multimedia-Anlage vor. Da kam ein Kind zu mir und sagte ganz bestimmt: „Lehrerin, ich möchte diese Geschichte nicht hören!“ Ich fragte das Kind: „Warum denn  nicht, das ist doch eine ganz tolle und wunderbare Geschichte…“. Da flüsterte das Kind mir ins Ohr: „Lehrerin, die Multimedia-Anlage kann mich nicht auf den Schoss nehmen.“

Eben. Das, was auf der Strecke bleibt, ist das, was man heute gern als nesting bezeichnet.

Zum Bild: Ein Buch draussen in der freien Natur lesen und dazu spielen und träumen – das ist eine Form von „nesting“. Foto: Kurt Schnidrig.