Warum treffen sich Menschen, um gemeinsam zu singen? Wie kam die Musik in die Welt? Wie entstand unsere Sprache? Warum schätzen die meisten Kulturen die Monogamie? Wenn wir Antworten suchen auf solche und ähnliche Fragen, dann begeben wir uns auf ein sehr unsicheres Terrain. Wir sind auf Vermutungen und Interpretationen angewiesen, auf Hypothesen. Vieles müssen wir der philosophischen Spekulation überlassen. Jürgen Kaube ist Herausgeber der FAZ, der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In einem spannenden Buch gibt er Antworten auf Fragen, die unser Menschsein ausmachen.
Wer weiss denn zum Beispiel, dass der Anfang des Singens bei schreienden Babys zu suchen ist? Der leise Singsang, mit dem die Mütter schon in früher Zeit ihre schreienden Babys beruhigten und in den Schlaf wiegten, soll der Anfang unseres heutigen Chorgesangs (Bild) gewesen sein. Als die Menschen noch in Höhlen lebten, sei es sogar existenziell wichtig gewesen, die Babys zu beruhigen. Denn die schreienden Babys hätten zur Zeit der Höhlenbewohner die Raubtiere angelockt, vermutet die amerikanische Anthropologin Ellen Dissanayake.
Wer zu den Anfängen unserer Sprache vordringen will, der landet schliesslich bei den lausenden Affen. In seinem Buch „Die Anfänge von allem“ übernimmt der Autor eine Hypothese, die besagt, dass das Lausen der Menschenaffen eine Vorform für unsere Sprache gewesen sei. Bereits beim Lausen, beim gegenseitigen Herauspicken der Läuse aus dem Fell, sei es um wechselseitige Kontaktaufnahme gegangen. Unsere heutige Sprache wäre demnach lediglich eine verbale Weiterentwicklung des handgreiflichen Lausens. Eine andere Hypothese besagt, dass die Sprache womöglich aus dem Schmatzen hervorgegangen sei, also aus einem Nebeneffekt der Nahrungsaufnahme.
Natürlich sind all dies keine beweiskräftigen Tatsachen. Es sind Spekulationen. Dennoch zeugen sie von viel Spürsinn und von Forscher-Fantasie. Die Hypothesen sind aber nicht aus der Luft gegriffen. Denn vieles ist evolutionär nicht erklärbar, wie das Beispiel der menschlichen Sprache illustriert: Nicht einmal Menschenaffen haben einen Rachenraum, der zum Sprechen ausreicht. So erhalten Hypothesen, die besagen, dass Sprache aus dem Schmatzen bei der Nahrungsaufnahme oder beim gegenseitigen Lausen entstanden sein soll, ihre Berechtigung.
Und wie kam die Schrift in die Welt? Unser Leben ist ohne die Schrift nicht mehr vorstellbar. Wichtiges halten wir schriftlich fest, damit es rechtskräftig wird. Wo aber sind die Anfänge der Schrift zu suchen? Eine Hypothese besagt, dass die Schrift nicht erfunden wurde, um Mündliches festzuhalten. Die Schrift soll um 8000 vor Christus in Mesopotamien einzig zum Zweck eingeführt worden sein, die genaue Zahl der Rinder, die man besitzt, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Schrift war also einzig eine Merkhilfe beim Rinderzählen.
Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Das sind die grossen philosophischen Fragen, welche die Menschheit seit Urzeiten beschäftigen. Vieles müssen wir immer wieder neu aufdatieren, die Forschungslage ändert sich stets aufs Neue. Die Lust am Denken und Interpretieren ist dem Menschen angeboren. Und tatsächlich ist es spannend, aufschlussreich und immer wieder überraschend, lustvoll darüber nachzudenken, wie die menschliche Kultur entstand. Oder wie sie entstanden sein könnte. Warum sind wir so, wie wir heute sind? Es gibt wohl keine spannendere Frage, als jene, wie alles begann.
Text und Foto: Kurt Schnidrig
Literatur: Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt Verlag. Berlin 2017. 450 Seiten.