Fluchtgeschichten

Schlagwörter wie „Flüchtlingsströme“, „Menschen in Seenot“ oder „Schlepper“ dominieren die Gespräche in Gesellschaft, Politik und Medien. Wie aber reagieren unsere Kinder auf diese erschreckenden Bilder und Geschichten? Müssten wir mit Kindern derartige Horrorgeschichten und die allgegenwärtige Bilderflut verarbeiten? Ein Bilderbuch will sich der Problematik annehmen. Das Bilderbuch „Die Flucht“ von Francesca Sanna ist für den Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis 2017 nominiert. Der Preis wird am 26. November von Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM verliehen.

Das Bilderbuch „Die Flucht“ der Autorin und Illustratorin Francesca Sanna liefert Gesprächsstoff. Das Bilderbuch ist ein Hilfsmittel, um mit einem Kind zu verarbeiten, was es täglich zu hören bekommt. Viele unserer Kinder sind auf dem Spielplatz oder in der Schule bereits in Kontakt gekommen mit anderen Kindern, die eine Fluchtgeschichte hinter sich haben. Die Autorin Francesca Senna hat Text und Bild so gestaltet, dass die Geschichte „Die Flucht“ stellvertretend steht für ganz viele Menschen, die Ähnliches erlebt haben.

Die Recherche-Arbeiten für das Bilderbuch „Die Flucht“ waren aufwändig. Die Autorin Francesca Sanna hat viele Menschen auf der Flucht getroffen, deren Geschichten gesammelt und aufgeschrieben. So entstand ein Bilderbuch, das alle gehörten Geschichten zu einer einzigen Geschichte zusammenfasst. Auch die Protagonisten im Bilderbuch stehen für viele andere, die das Gleiche oder Ähnliches erlebt haben. Aus diesem Grund haben die Figuren in der Geschichte keine Namen. Sie heissen verallgemeinernd lediglich die Mutter, der Vater, der Junge oder das Mädchen.

Durch die Technik der Ent-Personalisierung stehen die Situation, die Stimmung und die Eindrücke von geflüchteten Menschen im Allgemeinen im Vordergrund. Die Illustrationen sind grossflächig in bunten Farben gehalten. Die Bilder sind optisch abwechslungsreich gestaltet. Auf einer Doppelseite kann der Betrachter zwei grossen Fahrzeugen mit Flüchtenden folgen, dann folgt wieder eine detailgetreue Szene in einem nächtlichen Wald. Dominierend ist die Farbe Schwarz, die auch Unheil ankündigt, dies bereits auf der ersten Doppelseite, auf der das Meer eine unheilverkündende Schwarzfärbung annimmt.

Das Bilderbuch „Die Flucht“ endet mit einem offenen Schluss. Ich zitiere: „Wir fahren tage- und nächtelang und überqueren viele Grenzen. Vom Zug aus sehe ich hinauf zu den Vögeln (…). Ich hoffe, eines Tages anzukommen wie diese Vögel. In einer neuen Heimat, wo wir in Sicherheit sind und neu anfangen können.“ Der offene Schluss lädt dazu ein, mit Kindern Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Ein Happy End, wie sonst in Kinderbüchern üblich, hätte die Fluchtgeschichte bedeutungslos werden lassen und hätte sie der Aussagekraft beraubt.

Die Bilder haben eine eigene Symbolik und bedürfen wohl bei besonders sensiblen Kindern einiger erklärender Worte seitens einer erwachsenen Bezugsperson. Da tauchen zum Beispiel Wesen auf mit Krallen und mit furchterregenden Augen. Sie symbolisieren die Angst, welche die Flüchtenden oftmals ausstehen müssen.

Besonders ermutigend ist das letzte Bild ausgefallen. Die Familie reitet auf einem Flamingo. Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass der Ritt auf dem Flamingo den Wunsch der Kinder symbolisiert, Grenzen und Mauern mit der Leichtigkeit von Zugvögeln zu überwinden.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig