Wir alle machen Fehler. Wie viel Schuld trägt man an dem, was man verbockt hat? Die einen begehen Fehler, die das ganze Leben verändern. Den anderen unterlaufen Fehler, die halt einfach passieren können. Wohl jeder Mensch könnte eine Geschichte des eigenen Versagens erzählen. Das Leben ist voller Bauchlandungen und voller Rückschläge. Doch wie kommt man aus einem Schlamassel wieder raus? Wie findet man einen Weg aus dem Scheitern? Gibt es so etwas wie eine Kunst des Scheiterns?
Der Fehler, der ein Leben veränderte. Meine Journalisten-Kollegin Gina Bucher hat 20 Porträts von Menschen erstellt, die ihr Leben verbockt haben. Sie erzählt die Geschichte der Medizinerin Ava Keller. Wie jeden Tag verabreichte sie ihrer Patientin die Chemotherapie. Zwei Spritzen lagen bereit. Eine Spritze für die Vene und eine fürs Gehirn, welche sie ins Rückenmark hätte setzen müssen. Ava Keller verwechselte die Spritzen. Sie injizierte der Patientin die Flüssigkeit für die Vene ins Gehirn. Es gab keine Möglichkeit mehr, den Fehler rückgängig zu machen. Die Patientin überkamen Lähmungserscheinungen, sie blieb für den Rest ihres Lebens bis zum Hals gelähmt. Wie soll man nach solchen Fehlern weiterleben? Ava Keller wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt.
Bei einem Aufenthalt in London besuchte ich das Sherlock Holmes Museum in der Baker Street (Bild oben). Hier lebte der berühmte Detektiv aus den Kriminalgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle. Unglaublich, was Menschen in einer Grossstadt wie London so alles verbockt haben! Das Museum zeigt Szenen aus der kriminellen Vergangenheit Londons (Bild unten). Zu den Zeiten von Sherlock Holmes und Dr. Watson gab es für begangene Fehler keinen Pardon. Hochqualifizierte Henker richteten ihre Opfer vor einer geifernden Menschenmenge am Tower Hill hin. In einem fürchterlichen Akt der Zuschaustellung zeigten die Henker den abgetrennten und zuckenden Kopf des Toten den vielen Gaffern zur Schau hin. Historische Schilderungen berichten, dass dies getan wurde, um dem gaffenden Volk den noch bei Bewusstsein befindlichen Kopf zu zeigen. Früher waren die Strafen drastisch.
Aus Fehlern lernen? Vielen unterlaufen während ihres Lebens schwerwiegende Fehler, bei denen sie Wertvolles verlieren: Angehörige, Freunde, das psychische Gleichgewicht oder ihren guten Ruf. Die Autorin Gina Bucher erzählt in ihrem Buch von Totschlag, Drogen, Heiratsschwindel. Wie viel Schuld trägt man an dem, was man verbockt hat? Das fragt sich auch die Medizinerin, welche die falsche Spritze erwischt hat. Kann man aus Fehlern lernen? Nein, wir versuchen die Fehler meistens nur zu vertuschen, meint die Autorin. Vieles lässt sich nicht mehr ins Lot bringen.
Unsere Gesellschaft will Helden sehen. Superwomen und Supermen sind gefragt. Fehler machen und Scheitern ist verboten. Das Versagen ist ein Tabu. Die Menschen unserer Tage geniessen zwar viele Freiheiten. Sie müssen aber täglich unzählige Entscheidungen treffen. Damit sind wir alle auch sehr fehleranfällig geworden. Über das Scheitern spricht man nicht. Fehler sind nicht Smalltalk-tauglich.
Kriminalität und Lasterhaftigkeit dient der Unterhaltung. In Thrillern, Romanen, Filmen, TV-Serien und Shows werden die Fehlerhaften vorgeführt und besichtigt. Beispielsweise unter kundiger Führung im Londoner East End. Hier ging im Jahre 1888 Jack the Ripper um. In den dunklen Gassen führt uns der Reiseleiter auf die Blutspur des Serienmörders. Hier trifft Literatur auf Historie. Fakten und Fiktion ist nur schwer zu entwirren. Bei einem traditionellen englischen Abendessen im Sherlock Holmes Pub mit Fish und Chips lässt sich anschliessend trefflich ein filmreifes Finale nach der Abenteuer-Tour inszenieren.
Gibt es eine Kunst des Scheiterns? Von Bauchlandungen, Rückschlägen und zweiten Chancen schreibt die Journalistin Gina Bucher. Wer Fehler begeht, wem Fehler unterlaufen, der erhält manchmal eine zweite Chance. Sie hat Porträts erstellt von 20 Menschen, die grandios gescheitert sind. Die Autorin hat jedoch auch etwas zutiefst Menschliches in all diesen Geschichten von Gescheiterten gefunden. Gerne lasse ich die Autorin zum Schluss selber zu Worte kommen: „In allen Begegnungen kommen Hände vor, die beim Aufstehen helfen – so man denn wieder aufstehen möchte. Der Anwalt, der Seelsorger, der Sozialarbeiter, Freunde und Familie, die trösten, Opfer, die vergeben.“ Darin wohl liegt die Kunst des Scheiterns: Immer wieder aufzustehen. (Gina Bucher: Der Fehler, der mein Leben veränderte. Piper Verlag 2018. 249 Seiten.)
Text und Fotos: Kurt Schnidrig