Berührende Gedichte zu farbenfrohen Bildern gibt es im wundervoll präsentierenden Band mit dem Titel „Mama, jetz chund d’Sunna“ zu bewundern. Am vergangenen Samstag war Vernissage in Kippel. Nach dem Gottesdienst traf sich die Bevölkerung im „Grossen Saal“ und feierte zusammen mit der Familie Bellwald, mit Mutter Bernadette, Vater Paul und Sohn Daniel. Der Bild- und Gedichtband gibt Einblick in das Leben einer Familie mit einem behinderten Kind. Daniel habe von der jeweiligen Stimmung abhängige Bilder geschaffen, sagte Peter Meyer, der Präsident des Kulturvereins, einleitend. Und die Autorin ergänzte, dass der Titel des Buches aus Kindermund stamme, der siebenjährige Daniel habe den Satz ausgesprochen, als die Sonne eines Morgens ihre Strahlen ins Badezimmer schickte. Zugleich sei für sie alle die Sonne auch in ihren Herzen aufgegangen.
Ein Kind lässt uns teilhaben an seiner Welt. Es tut dies mit farbenfrohen und aussagekräftigen Bildern. An der Mutter ist es, die Hochs und Tiefs herauszulesen, die das Kind in seiner Malerei versteckt und ausgelebt hat. Mutter Bernadette Bellwald erweist sich dabei als eine Dichterin, die gekonnt das natürliche Erleben des Kindes auf eine erklärende Ebene hievt, und sie ist es auch, welche die kindlichen Äusserungen, das Bangen und das Hoffen, für uns Aussenstehende mit Texten erlebbar, nachvollziehbar und mitfühlend gestaltet.
Die primäre Welt steht am Anfang. Autorin Bernadette Bellwald lässt sich vom primären Erleben ihres Kindes zu philosophischen Traktaten, gegossen in Reim und Vers, animieren. Dabei dringt in ihren Gedichten immer wieder das Hoffnungsvolle, das Wunderbare und Zauberhafte durch, auch inmitten einer düsteren Novemberstimmung oder im Tanz der fallenden Herbstblätter. Da, wo das Traurige, das Sorgenvolle und das Vergängliche sich paart mit dem Frohen, dem Zuversichtlichen und dem Tröstlichen, da sprechen die Texte zum Leser, sie ziehen ihn in ihren Bann. Die Dichterin personifiziert die unbeseelte Natur und erhebt damit das Unbegreifliche ins menschlich Fassbare. Dies geschieht dann etwa, wenn sie das Fallen und Absterben der herbstlichen Blätter, die „ihre letzte Reise antreten“, von der Sonne vergolden lässt, und wie Liebende, die im Schicksal vereint sind, „liegen sie, aneinander geschmiegt – ganz ängstlich, das traurige Schicksal erduldend.“
Kinder- und Erwachsenenperspektive. Bernadette Bellwald bedient sich in ihren Texten, an deren Ursprung ja das kindliche Erleben steht, oft des Paarreims. Der Paarreim begegnet uns recht häufig in Kinderreimen, Kinderliedern, Abzählreimen und auch in populärer Musik. Dieses eingängige Reimschema erlaubt es, das kindliche Empfinden und Erleben auch der Welt der Erwachsenen wieder nahezubringen, etwa mit den Zeilen: „Es gibt ein Land, / ohne ein Stäubchen Sand. / Alles so weiss wie Schnee, / verklärt und zauberhaft wie eine Fee.“ (Aus: Das Land der Liebe). Bei den grossen Themen des menschlichen Lebens bedient sich die Dichterin eher des Kreuzreims: „Wie schön sind die Blätter eines Baumes, / wenn er sich wiegt im Frühlingswind. / Es ist, als gedächte er eines Traumes, / den er träumte einst als Kind.“ (Aus: Der Lebensbaum). Bei einigen Texten allerdings verlässt die Dichterin ihr Gestaltungsprinzip. Hier geht sie nicht mehr vom ursprünglichen Erleben des Kindes aus, sie schreibt vielmehr aus der Erwachsenenperspektive: „Irgendwann und irgendwo / treffen einmal alle Wege sich. / Was einst nicht verstanden wurde, / wird dann dort begriffen. / Wo aber ist das Dann? / Wo das Dort?“ (Aus: Schicksalsmelodie). Konsequenterweise verlässt die Dichterin beim Wechseln von der Kinderperspektive zur Erwachsenenperspektive auch das kindliche Reimschema und geht zu freien Rhythmen über.
Ein Dorf nimmt Anteil. Die Buch-Vernissage in Kippel von „Mama, jetz chund d’Sunna“ war einzigartig in ihrer Art. Da gab es keine passiven Konsumenten, sondern nur aktive und mitfühlende Besucher. Wer den „Grossen Saal“ gegenüber der Kippeler Pfarrkirche betrat, der erhielt Notenblätter in die Hand gedrückt zum Mitsingen und Mitgestalten. Gefühlvoll und berührt von der andächtigen Stimmung sang jede und jeder mit, die altbekannten Volkslieder, zwei- und mehrstimmig, je nach persönlichem gusto. Eher vorsichtig und abtastend noch „Wo der Lonza Wellen fliessen“ oder „Die Alpenrose“. Dann aber brachen alle Dämme und all das viele Volk sang mit Inbrunst „Das Lied vom Hirtenknab“. Und so traf Vergangenheit auf Gegenwart, Kinderzeit auf Erwachsenendasein, die weite laute Welt auf das enge stille Tal. Und, obschon es in den heimeligen Gassen des Dorfes schon eindunkelte, war man versucht auszurufen: „Jetz chund d’Sunna!“
Text und Fotos: Kurt Schnidrig