Eltern-Kind-Geschichten

Die Vater-Tochter-Geschichte „The Father“ wurde mit dem Oscar für die beste Literaturverfilmung ausgezeichnet (Foto: Ein Oscar für die besten Väter. Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Von einem USA-Trip nach Hause zurückgekehrt, überreichten mir meine Kinder vor ein paar Jahren ein ganz besonderes Souvenir-Geschenk. Sie überreichten mir eine Oscar-Statue mit der Widmung „WORLD’S GREATEST FATHER“ als ein Dankeschön für mein Wirken als Vater (vgl. Bild oben). Die Souvenir-Statue bedeutet mir viel, und sie hat einen ihr gebührenden Platz in meinem Arbeitszimmer erhalten. Eltern-Kind-Geschichten sind ganz besonders. In der vergangenen Sonntagnacht wurde die Vater-Tochter-Geschichte „The Father“ mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet. Ein „adaptiertes Drehbuch“ basiert auf einer literarischen Vorlage, meist handelt es sich dabei um einen Roman. „The Father“ basiert auf einem Theaterstück von Florian Zeller, der als Film-Regisseur sein eigenes Stück nun auch gleich selber erfolgreich auf die Leinwand gezaubert hat.

„The Father“ erzählt die Geschichte des 80-jährigen Vaters Anthony. Er ist hochgradig dement, seine Tochter Anne muss sich um ihn kümmern. In der grossen Wohnung in London lebt der an Demenz erkrankte Anthony völlig orientierungslos vor sich hin. Von der aufreibenden Pflege ermüdet und ausgelaugt, teilt Anne ihrem Vater Anthony mit, dass sie mit ihrem Mann zusammen nach Paris ziehe, um dort ein neues Leben zu beginnen. Selbstverständlich hat Anne für Ersatz gesorgt. Die attraktive neue Betreuerin von Anthony heisst Laura. Gleich bei Dienstantritt wird sie von Anthony mit Komplimenten überschüttet. Was aber sind die Komplimente eines alten und dementen Mannes wert? Anne warnt ihre Nachfolgerin Laura vor dem alten Anthony. Die Oscar-Preisträgerin Olivia Colman spielt in „The Father“ die Rolle der Tochter Anne. Oscar-Preisträger Anthony Hopkins gibt den demenzkranken Vater Anthony. Die Dreharbeiten fanden in den West London Film Studios statt, die Aussenaufnahmen im Londoner Stadtteil West Kensington.

Vater-Tochter-Geschichten und vor allem Vater-Sohn-Geschichten haben in der Literaturgeschichte eine grosse Tradition. Die Vater-Sohn-Geschichten geben dabei den Ton an und bestimmen das Genre der Eltern-Kind-Geschichten. Wie in „The Father“ handelt es sich meist um schwierige und konfliktbelastete Beziehungen, die in diesen Geschichten ausgebreitet werden. Warum? Insbesondere die Vater-Sohn-Geschichten zeichnen dafür verantwortlich. Die Problematik geht zurück bis in die Nachkriegszeit. Der Nachkriegsgeneration, insbesondere der 68er Jugend, ging es damals auch um die Auseinandersetzung mit den Vätern, die soeben aus dem Krieg zurückgekehrt waren. Viele von ihnen hatten eine schwierige NS-Vergangenheit zu bewältigen. Verschämt und depressiv hüllten sich die Heimkehrer oftmals in Schweigen.

Das Schweigen der Väter ist seit den unseligen Kriegszeiten sprichwörtlich geworden und manifestiert sich im Literatur-Genre der Eltern-Kind-Geschichten. Dazu kommt ein unbewusstes Muster der Wiederholung. Die Söhne tun, was die Väter taten: Sie schweigen. Sie deckeln ihre Gefühle. Das „Vaterschweigen“ ist seither eine wiederkehrende Konstante in Literatur und Film. Dass dabei die Mütter auf Kosten der Väter besonders gut wegkommen, ist diesen zu gönnen, obschon die Väter dabei die Leidtragenden sind. Überaus deutlich wird dies im Roman „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin (erschienen 2017 bei Rowohlt). Natascha Wodin erzählt, wie sich im Schweigen ihrer Eltern, insbesondere ihres Vaters, dessen Traumata auf sie selbst übertragen haben. Mehr als deutlich wird dies in Martin Osterbergs Roman „Das kalte Haus“, in dem er über seine unglückliche Kindheit in einer heilen Familie berichtet. In diesem Roman ist die traurige Schlussfolgerung zu lesen: „Mein Vater ist ein Arschloch“.

Väter sind nichts Aussergewöhnliches, gerade das aber scheint ihr Unglück zu sein. Viele Autor*innen arbeiten sich an ihren Vätern ab wie bei einer Psychoanalyse. Viele Söhne und Töchter, die sich an Eltern-Kind-Geschichten heranwagen, inszenieren sich selber als die besseren Väter oder Mütter. Erwachsen geworden, setzen sie sich mit all den Unzulänglichkeiten auseinander, die sie in ihrer Jugend erlebt zu haben glauben. Nun fühlen sie sich zur Kritik an den eigenen Eltern legitimiert. „So, und jetzt kommst du“ ist der Titel, den der Autor Arno Frank der Abrechnung mit seinem eigenen Vater in Buchform gegeben hat. Autor Frank erzählt seine Kindheit als ein Abenteuerroman und enttarnt dabei seinen Vater als Hochstapler. Einige dieser Eltern-Kind-Geschichten haben für mich als Leser etwas unangenehm Besserwisserisches an sich.

Das Autobiographische, das den Eltern-Kind-Geschichten anhaftet, hat viel Fiktives an sich. Dies hängt damit zusammen, dass jede und jeder seine eigene Lebens-Fiktion herstellt. Eigentlich ist es ja unerheblich und völlig unwichtig, was und wieviel in Familiengeschichten erfunden wird. Bei den Eltern-Kind-Geschichten dominiert jedoch immer noch „das Schweigen der Väter“. In der Literatur tragen die heutigen Väter schwer am Erbe, das ihnen die Väter der Kriegsgeneration, häufig mit einer schwierigen NS-Vergangenheit behaftet, hinterlassen haben.

In „The Father“ (ver-)stört mich eine einzige Szene ganz besonders. Es handelt sich um die Szene, in der die Tochter Anne sich vom Acker macht und ihren dementen Vater der neuen Betreuerin Laura überlässt. Ich kann zwar sehr gut verstehen, dass sich Anne mit ihrem Mann ein sorgenfreies Leben in Paris gönnen möchte. Mich erschreckt einzig die Warnung, die Anne der neuen Betreuerin Laura mit auf den Weg gibt. Die Tochter Anne warnt die neue Betreuerin vor ihrem eigenen Vater. Alte Männer, alte Väter, seien nicht immer so charmant, warnt Anne. Aus Annes Worten glaube ich das „Vaterschweigen“ herauszuhören, wie es leider allzu häufig in Eltern-Kind-Geschichten thematisiert wird. Das schmerzt uns Väter. Auch dann, wenn Eltern-Kind-Geschichten mit Oscars ausgezeichnet werden.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig