Zeruya Shalev traf ich zusammen mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Maria Schrader zum Zeitpunkt, als sie ihren Roman „Mann und Frau“ präsentierte. Was mich bei diesem Zusammentreffen faszinierte: Inmitten des immer wieder aufflackernden Nahost-Konflikts schreibt eine Schriftstellerin eine Trilogie über die Liebe. Wie kann eine Schriftstellerin, die vor ein paar Jahren bei einem Anschlag eines Selbstmordattentäters erheblich verletzt wurde, weiterhin in einem Land leben und schreiben, das inmitten der Kriegswirren zwischen Palästinensern und Israeli nicht zur Ruhe kommt? Zeruya Shalev ist die Tochter einer Kunstdozentin und eines renommierten Literaturkritikers. Sie wurde in einem israelischen Kibbuz geboren. Während ihrer Militärzeit betätigte sie sich als Sozialarbeiterin. Sie studierte Bibelwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem. Nun arbeitet sie als Schriftstellerin und als Verlagslektorin. Heute lebt sie mit ihrem dritten Mann, zwei Kindern aus verschiedenen Ehen und einem Adoptivkind in Jerusalem.
Mitten im Krieg schreibt sie über die moderne Liebe. Zeruya Shalev hat eine beeindruckende Roman-Trilogie über die moderne Liebe verfasst. Der erste Band dieser Trilogie trägt den Titel „Liebesleben“. Er wurde von Maria Schrader (im Bild oben) verfilmt und kam bereits im Jahr 2007 auch bei uns in die Kinos. Zeruya Shalev beschreibt darin die inneren Spannungen einer jungen Frau, die sich in einen älteren Mann verliebt und in Abhängigkeit zu ihm verfällt. Der zweite Band in dieser Liebes-Trilogie heisst „Mann und Frau“. Hier beschreibt die Autorin das Scheitern einer Ehe. Die Protagonistin wird nach vielen Jahren gemeinsamen Zusammenlebens überraschend von ihrem Mann verlassen, sie begreift diese Neuerung jedoch als Chance. Der letzte Band der Trilogie schliesslich heisst „Späte Familie“. Autorin Zeruya Shalev thematisiert hier das Scheitern einer Ehe und den Prozess dramatischer Krisen, die letzten Endes die Möglichkeit zu einer „späten Familie“ bieten.
Die Aktualität holt ihre Bücher ein. Die Ereignisse dieser Tage in Israel und in den Palästinensischen Gebieten haben mich an Zeruya Shalevs Trilogie über die moderne Liebe erinnert. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan fordern Auseinandersetzungen wiederholt Schwerverletzte auf beiden Seiten. In Ost-Jerusalem, insbesondere auf dem Haram al Sharif/Tempelberg, führen gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften zu Toten und Verletzten.
Nach massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen auf Israel am 10., 11. und 12. Mai 2021, insbesondere auch mit Einschlägen in den südlichen Vororten von Tel Aviv, erfolgen nun Gegenschläge durch die israelischen Streitkräfte. Sie fordern zahlreiche Verletzte und Tote. Der internationale Flughafen Ben Gurion ist geschlossen. Auch in den kommenden Tagen ist mit einer weiterhin äusserst angespannten Lage zu rechnen. Mit einer Fortsetzung des Schlagabtauschs zwischen Gaza und Israel muss – gemäss Auskunft des Bundesamts für Auswärtige Angelegenheiten – gerechnet werden.
Zeruya Shalevs Roman „Mann und Frau“. Inmitten der Kriegswirren des Nahost-Konflikts schreibt Zeruya Shalev ihre Romane über die moderne Liebe sprachgewaltig, leidenschaftlich und atemberaubend. Das politisch umstrittene Land und die symbolträchtige Landschaft geben den farbigen Hintergrund ab für ihre psychologisch fundierte Roman-Trilogie, die das weite Feld der ehelichen Zweisamkeit schonungslos aufrollt.
„Im ersten Augenblick des Tages, noch bevor ich weiss, ob es kalt oder warm ist, gut oder schlecht, sehe ich die Arava vor mir, die Wüste zwischen dem Toten Meer und Eilat, mit ihren blassen Staubsträuchern, krumm wie verlassene Zelte.“
Romananfang von „Mann und Frau“ von Zeruya Shalev
Des Lesers Erwartungen werden aber schon ein paar Seiten weiter in Richtung des grossen und umfassenden Romanthemas gelenkt. „Mir kommt es vor, als wäre ich eine Touristin, begeistert vom Heiligen Land und begeistert von diesem Reiseleiter, der das Land so gut kennt.“ Die wechselnde Erzählperspektive erlaubt Verallgemeinerungen aus der Sicht des Lesers und Israel-Besuchers. Der Spannungsbogen des Romans öffnet sich spätestens bei der Ankündigung sich anbahnender Eheprobleme: „Udi – schon immer war ich neidisch auf diese Beine, die nie müde werden und Touristen durch die Arava und die judäische Wüste führen, während ich immer zu Hause bleibe, weil mir das Gehen schwer fällt.“ Damit beginnt die Geschichte von Udi und von Na’ama. Es ist die Geschichte von Mann und Frau.
Zermürbende Zweisamkeit. Einmal ist er für zwei Tage fast vollständig gelähmt, ein anderes Mal wird er für kurze Zeit blind, dann legt er sich ins Bett und lässt sich von Frau und Tochter bedienen: Die Rede ist von Udi, mit vollem Namen Ehud Neumann, Sohn Israels, beliebter Reiseleiter, verheiratet, eine Tochter, mit Gliedern ausgestattet, die ihm nicht mehr gehorchen. Udi leidet an einer konversiven Lähmung, an einer „Konversionsneurose“, die jeweils dann auftritt, wenn der Körper seinen seelischen Druck auf ein körperliches Symptom verlagert. Regelmässig nach einem Streit mit seiner Frau Na’ama treten derartige Symptome auf. Zu einem verwöhnten Gefangenen wird Udi dann, zu einem Riesenbaby. Die Ich-Erzählerin begegnet diesem Umstand mit etwelcher Ironie und Komik.
„Ich muss mich zurückhalten, nur nicht die Bestie der Konversionsneurose aufwecken, die uns begleitet und ruhig und gefährlich hinten im Auto schläft.“
Aus „Mann und Frau“ von Zeruya Shalev
Rechtfertigungen gibt es in einer zerrütteten Ehe ohne Zahl. Seiner Frau Na’ama gegenüber rechtfertigt Udi sein Verhalten mit dem Hinweis auf ein acht Jahre zurückliegendes Erlebnis. Damals hatte ihn seine Frau beinahe mit einem Maler betrogen. Etwas, was er ihr nie hatte verzeihen können.
Hass und Liebe. So windet sich Shalevs Roman in kunstvoll ziselierten Episoden um das allzeit gegenwärtige Thema von Liebe und Hass. Der Leser verfolgt diesen täglichen Kampf von Mann und Frau, diese Geschichte einer gescheiterten Paarbeziehung, mit zunehmender Anteilnahme. „Es ist, als würfe er von seinem Bett aus Steine auf mich, dreckige Wortfetzen, er wagt es, in mein Inneres zu dringen und dort seinen Müll abzuladen, wie kriege ich ihn aus mir heraus…?“ Doch trotzdem ist sie, die Frau, immer wieder „auf dem Rückweg zu Neumann, Ehud, Sohn Israels, ängstlich wie eine Mutter, die ihr Kind einer unbekannten Pflegerin überlassen hat.“
Modernes Liebesleben. Hin- und hergerissen zwischen Trennung und Zuwendung suchen Frau und Mann nach neuen Möglichkeiten, um die eheliche Zweisamkeit zu retten. „Er hat mich in ein Tier verwandelt, in eine verwundete Bärin, so kann es nicht weitergehen“, schlussfolgert die Frau. Der Mann verlässt die Familie, um zu seiner jungen Ärztin zu ziehen. Die Frau beginnt eine Affäre mit einem erfolgreichen Architekten. Die Trennung ist vollzogen, der unmerklich vor sich hinschwelende Hass ist verglimmt. Vielleicht zeigt sich hier die Chance zu einem neuen Anfang. Der Phantasie der Leser*innen lässt der Roman Tür und Tor weit offen.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig