„True Crime“ statt Regio-Krimis?

Auf den Spuren von Sherlock Holmes wandeln die Autoren von „True Crime“. Bild: Vor dem Sherlock Holmes Museum in London. (Foto: Schnidrig)

„Wahre Verbrechen“ – „True Crime“ ist ein Genre in der Literatur, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Schweizer Gerichtsreporterin Christine Brand schwimmt mit ihrem neuen Buch auf der True-Crime-Welle mit und veröffentlicht wahre Geschichten zu den spektakulärsten Schweizer Kriminalfällen der vergangenen Jahre. Immer wieder ist nämlich die Wirklichkeit noch viel schrecklicher und bedrohlicher als fiktionale Regio-Krimis, die lediglich der Fantasie der Schreibenden entspringen. Leser*innen greifen vor allem dann zu einem Buch, wenn die Lektüre für das eigene Leben oder gar für die eigene Sicherheit gewinnbringend ist. Der reine Unterhaltungswert stellt natürlich auch eine Lesemotivation dar, aber möglicherweise haben die Verlage allzu lange und allzu ausufernd den Markt mit Regio-Krimis gesättigt, dies in der Hoffnung, damit allgemein das Geschäft mit dem Buch aufzupeppen. Es kommt hinzu, dass auch in der Schweiz sich in den vergangenen Monaten und Jahren derart viele wahre und spektakuläre Kriminalfälle ereignet haben, Kriminalfälle, die zudem derart viel Gesprächsstoff liefern, dass ein fiktionaler Regio-Krimi sich im umkämpften Literaturbetrieb nur mit Mühe behaupten kann. Bereits Arthur Conan Doyle war sich Ende des 19. Jahrhunderts der Bedeutung von „True Crime“ bewusst.

Die erste Sherlock-Holmes-Geschichte brachte Arthur Conan Doyle 1886 zu Papier. Er schuf mit dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes eine Figur, die in der Literatur derart berühmt wurde, dass sie Kultstatus erreichte. Arthur Conan Doyle war sich schon damals der lapidaren Tatsache bewusst, dass das wahre Leben die besten Geschichten schreibt. In seinem Beruf als Mediziner schöpfte Arthur Conan Doyle seine Stoffe meist aus wahren Quellen. Sein Detektiv Holmes ermittelte immer mit viel Sachverstand und mit Methoden der damaligen Kriminalwissenschaft. In einem gut ausgerüsteten Chemie-Labor machte sich Holmes mittels der Analyse von Blutspuren bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach dem Mörder. Auch bei seinen Leser*innen, bei der Lese-Rezeption also, verschwammen die Grenzen zwischen fiktiver Romanfigur und Realität vollkommen. Als Doyle 1893 seinen Helden Sherlock Holmes den letzten Fall lösen und gar sterben liess, ging ein Schrei des Entsetzens durch die Welt. Holmes-Fans sollen sogar zum Zeichen der Trauer schwarze Armbinden getragen und den Tod ihres Helden beweint haben.

Arthur Conan Doyle vermied nach Möglichkeit alles Fiktive. Er liess seinen Helden Sherlock Holmes an der Baker Street 221b wohnen. Die Wohnadresse wurde 1990 zur Wirklichkeit. In unmittelbarer Nähe der Romanadresse entstand in der Baker Street das Sherlock-Holmes-Museum. Das Museum präsentiert die Wohnung des Meisterdetektivs genau so, wie Doyle sie sich vorgestellt und in seinen Romanen beschrieben hatte.

Als Sherlock Holmes verkleidet, mit dessen Hut und Pfeife, durfte ich in der Wohnung an der Londoner Baker Street 221b Platz nehmen. (Foto: Schnidrig)

Im Wohnzimmer von Sherlock Holmes an der Londoner Baker Street durfte ich Platz nehmen und mich in die Figur des Meisterdetektivs Sherlock Holmes einfühlen. Das Zimmer ist gemütlich im Stil der Viktorianischen Zeit möbliert und vollgestopft mit Erinnerungsstücken des legendären Detektivs. Zusätzlich können in der Wohnung zwei Schlafräume besichtigt werden, der eine für Holmes selbst, der andere Schlafraum für dessen treuen Weggefährten Dr. Watson. In den Erzählungen von Sir Arthur Conan Doyle wohnten die beiden dort von 1881 bis 1904.

Christine Brand, Schweizer Gerichtsreporterin, wandelt mit ihren „True-Crime-Geschichten“ in den Spuren von Sir Arthur Conan Doyle, indem sie allem Fiktiven abschwört und sich lebensechten Kriminalfällen zuwendet. Insgesamt sechs Kriminalfälle beschreibt Christine Brand in ihrem Buch „Wahre Verbrechen“. Als Gerichtsreporterin berichtet sie über den Vierfach-Mord von Rupperswil, dann auch über den „Todespfleger“, der über 100 Menschen gemordet hat, oder auch über den Musiklehrer, der 16 Klavierschüler*innen HIV-Blut gespritzt hatte. Bei all diesen Gerichtsfällen besteht eine Gemeinsamkeit: Der Täter ist keineswegs ein böser Fremder, der von weit her in eine heile Welt eindringt. Nein, der Täter ist der Mann aus der Nachbarschaft, der Pfleger aus dem naheliegenden Spital, der Kollege, der Ehemann, der Musiklehrer. In all diesen Fällen hatten die Opfer dem Täter vertraut, dieser hatte aber im Gegenzug dieses Vertrauen arg missbraucht.

Die Schweizer Justiz hat in den allermeisten Fällen, von denen Christine Brand berichtet, Recht gesprochen. Das Buch vermittelt den Eindruck, dass unser Justizsystem funktioniert. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Ausnahmen sind im Umfeld des Täters festzustellen. Da schreibt die Gerichtsreporterin Christine Brand beispielsweise über die Wut, die sie überkommen hat, wenn viele Mitwisser einfach die Augen verschlossen haben vor der kriminellen Tat dann ohne Strafe davongekommen sind. Das war beispielsweise der Fall beim „Todespfleger“, der über 100 Menschen regelrecht hingerichtet hatte. Verantwortliche und Ärzte in den Spitälern hatten anscheinend davon gewusst, aber anstatt den Täter zu stoppen, hatten sie einfach weggeschaut. Nur sehr wenige Personen in leitenden Positionen, die in den Spitälern von den Taten des „Todespflegers“ gewusst hatten, wurden für ihr Mitwissen vor Gericht gestellt. Dabei kommt den Verantwortlichen und insbesondere den Ärzten in den Spitälern, in denen der „Todespfleger“ wütete, eine Mitschuld zu, ist Christine Brand überzeugt.

Bei vielen Tätern lässt sich eine Entwicklung beobachten. Meistens fallen die Beschuldigten vorerst nur durch kleine Delikte auf, diese bleiben unentdeckt. Erst später wird die Täterschaft immer mutiger und waghalsiger. So gab es beispielsweise in der Stadt Bern einen Mordfall, bei dem eine Gruppe von Jugendlichen in den Wald gefahren war und einen Bekannten erschossen hatte. Angefangen hatte die Jugend-Bande mit dem Knacken von Automaten, dann mit dem Diebstahl von Autos, sodann mit einem Überfall auf einen Kiosk. Und irgendwann überkam die jungen Leute die verhängnisvolle Idee, jemanden zu ermorden.

Das Motiv ist nicht immer ersichtlich. Ein Motiv fehlt beispielsweise beim Kriminalfall des Musiklehrers, der viele Menschen absichtlich mit dem HI-Virus infiziert hatte. Der Täter hatte sich als Heiler oder gar als Heiliger verstanden, der über Leben und Tod entscheiden kann. Warum er aber seinen Schülern das HI-Virus gespritzt hatte, wird wohl immer schleierhaft bleiben. Noch vor Gericht hatten die Opfer von „ihrem“ genialen Musiklehrer geschwärmt, obschon er sie lebensgefährlich infiziert hatte. Nun ja, zuweilen ist das wahre und echte Leben viel geheimnisvoller und rätselhafter als jeder Kriminalroman.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch der Gerichtsreporterin Christine Brand. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen).

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig