Mit „Da hinauf“ legt Marianne Künzle eine Erzählung vor, welche die Denkweisen und Prägungen von heute den Idealen der 1950er-Jahre gegenüberstellt. Der nachfolgende Beitrag ist eine Auftrags-Rezension des „Walliser Boten“ und ist dort bereits erschienen (vgl. Walliser Bote, Grossauflage vom 24. März 2022).
Annina, Praktikantin auf einer Redaktion, ist eine Heutige, eine, die „sich am Kugelschreiber festhält“ und dem anstehenden Interview sorgenvoll entgegenblickt. Annina ist „Mellis bester Kumpel“, mit ihr pflegt sie zu hiken und zu biken. Weil Melli aber krank darniederliegt, versucht Annina auf einer Bergtour den Alleingang, der sie aus dem Alltagstrott herausführt und ihr in dramatischen Stunden den Zugang zum eigenen Selbst eröffnet.
Irma, die zwei Jahrzehnte lang eine „sorgenfreie Mama-Beziehung“ geführt hatte, war vor Jahrzehnten den gleichen Weg hoch zum Gletscher gewandert. Getreu den damaligen Gegebenheiten hatte sie sich anleiten lassen von ihrem Ehemann Herbi und war derart in ihrer Mutterrolle aufgegangen, dass sie mit Loslösungsproblemen zu kämpfen hatte. Therese, der Braut ihres Sohnes, hatte sie von einer Heirat abraten wollen, wenn dieser ihr die Anstellung beim Stadttheater verbieten sollte. „Polterer“ Herbi hätte den Sohnemann zurechtgewiesen. Doch Herbi war aus ihrem Leben gerissen worden. So fühlte sich Irma unglücklich hin- und hergerissen zwischen überkommenem Rollenverhalten und neuzeitlichem Frauenbild und dadurch auch als „Spielverderberin“ und als „Verräterin“ gegenüber ihrem Ehemann Herbi.
Auf ihrer zeitlich verschobenen Bergwanderung lassen Irma und Annina uns Lesende teilhaben an ihren Selbstgesprächen, Wünschen, Hoffnungen und Tragödien. Abwechselnd erzählt die Autorin aus der personalen Perspektive der beiden Frauen. Der Innensicht ihrer Figuren stellt die Autorin die unterschiedliche Wahrnehmung der sich wandelnden Umwelt gegenüber, der Natur und insbesondere des schmelzenden Gletschers, der wie ein eisiges Band die Erzählungen der beiden Frauen verknüpft.
Die Erzählungen sind reich an stimmigen Bildern und Metaphern, derer sich die Autorin kenntnisreich aus der Berg- und der Gletscherwelt bedient. Dort, wo die Anbindung des alltäglichen „Small Talks“ der Figuren an das verbindende Gletscher-Thema gelingt, weist die Erzählung ihre besonderen Stärken auf. Dann etwa, wenn sich die Protagonistin Annina den Gletscher in Würfel geschnitten imaginiert und beim Leser die Assoziation zu Eisstücken in Apéro-Gläsern mit perlendem Prosecco entsteht. Oder wenn Protagonistin Irma über die Namen von Berggipfeln philosophiert und sich dabei an die Taufe ihres Sohnes Karl erinnert, dem sie ein allzu grosses Taufkleidchen verpasst hatte, was ihren Ehemann Herbi damals zu spöttischen Äusserungen veranlasste. Herbi! Er ist gewissermassen Irmas innere Stimme, er weiss alles und er weiss alles besser: „Herbi hätte dort picknicken wollen“ und man glaubt Herbi sprechen zu hören, wenn der Gletscher der Einzelgängern Irma „wie ein gepanzertes Riesentier“ zu Füssen liegt.
Trotz der vielen Nebenschauplätze und trotz des handlungsarmen Plots wirkt die Erzählung kaum je monoton oder gar langweilig. Nicht selten dienen die eingestreuten Kurzgeschichten der zusätzlichen Charakterisierung, etwa dann, wenn sich Irma an den kleinen Karl erinnert, wie er sich als Fünfjähriger ob eines Wäschekorbs erschrak, der im Wasser schwamm und dem Wäschekorb ähnelte, in dem zu Hause seine Kätzchen schlummerten. Will heissen: So, wie Karl als Kind um andere besorgt gewesen war, so war er es auch in Bezug auf sein Zusammenleben mit seiner Verlobten.
Manchmal sorgen gar ausgefallene Kunstmittel wie etwa die Camera-Eye-Technik für die nötige Erzähldynamik: Aus der Filmperspektive lässt uns die Autorin über die Szenerie am Gletscher schweben, in der Annina „denkt, dass im Film jetzt die Streicher einsetzen würden“. Hellhörig wird der Leser bei den immer wiederkehrenden Vorausdeutungen eines (möglichen) nahen Todes. „Wie das wohl ankäme, die Nachricht über ihr Ableben?“, fragt sich Annina, und: „Was, wenn der Gletscher sie in sich hineinzöge?“ Die „Graten und Bergspitzen“ scheinen auch metaphorisch eine nahende Gefahr anzukündigen und ein „Bröckeln“ der Natur lässt die Anspannung spüren, nicht zu wissen, wann ein Gletschertor in sich zusammenfällt. Vorausdeutungen, welche die Finalspannung aufrechterhalten, bis sich schliesslich die Wege der beiden Frauen, der heutigen und der früheren, kreuzen.
Der Ausgang der Erzählung bleibt in manchem ungewiss. Im „Verlorenen Tal“ endet eine Erzählung, die Annina zur Gehetzten werden lässt, sie rennt weg vor einer Toten, kommt zurück und sucht die innere Ruhe im Alltäglichen, denn „vielleicht ist es der Frau unangenehm, das Kopftuch nicht sitzend zu wissen“.
Zur Autorin: Marianne Künzle stammt ursprünglich aus Bern und lebt heute im Wallis. Sie war lange Zeit für Greenpeace tätig. „Da hinauf“ ist ihr zweites Buch. In ihrem ersten Buch hatte sie sich mit dem Leben des Kräuterpfarrers Johann Künzle befasst.
Quellenangabe: Diese Rezension erschien als Auftragsarbeit in der Grossauflage des „Walliser Bote“ vom 24. März 2022.
Text und Foto: Kurt Schnidrig