Mit Starautorin Judith Hermann im Gespräch

Mit Judith Hermann habe ich mich in Leukerbad zum Interview getroffen. (Bild: rro)

Judith Hermanns Erzählungen und Romane haben eine Generation von Leserinnen und Lesern geprägt. In „Wir hätten es uns gesagt erzählt sie zum ersten Mal von ihrem Lebensweg, von dem, was ihr Schreiben und Leben miteinander verbindet.

Judith Hermann, Ihr neues Buch trägt den Titel „Wir hätten uns alles gesagt“. Darin schreiben Sie am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben würden Sie nicht kennen, gestehen Sie darin. Muss man wirklich am eigenen Leben entlang schreiben, um überhaupt schreiben zu können?

Judith Hermann: Nein, das muss man ganz und gar nicht. Aber ich kann immer nur für mich sprechen und nicht auch noch für alle anderen Autoren, die mit mir sich diesem merkwürdigen Beruf verschrieben haben. Ich glaube, dass jedes Schreiben immer auch einen autobiographischen Kern hat. Jedes Schreiben birgt in sich ein Moment, das mit dem eigenen Schreiben zu tun hat. Dieses Moment braucht es sicherlich, um eine Geschichte anfangen zu können.

In Ihrem neusten Werk gestehen Sie frank und frei: „Selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin genau nicht ich“, aber das ist ja dann doch nicht autobiographisches Schreiben? Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja, das ist ein Widerspruch, das ist ein Paradox, oder sagen wir: Es sind dies beide Seiten einer Medaille. Wir haben heute dafür den Modebegriff „Autofiktion“ kreiert. Es handelt sich dabei um das eigene autobiographische Erlebnis, das man umformt in eine Fiktion, in eine Erzählung, und das ist dann in der Grundlage vielleicht autobiographisch, und was daraus gemacht wird fiktiv.

„Die Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss“, ist in ihrem Buch nachzulesen. Wie gefährlich ist denn das Schreiben?

Es ist total gefährlich. Schreiben ist ein grosses Abenteuer jedenfalls. Sich auf die Suche nach einem Text, nach einer Geschichte, zu begeben, ist durchaus etwas, was Begegnung, Erkenntnis und Erfahrung mit sich bringt, weil man zuvor nicht das Allergeringste weiss. Schreiben ist etwas, das man überstehen muss, und, um es auch mal dramatisch zu sagen: Schreiben ist etwas, das man überleben muss. Das Schreiben ist jedes Mal eine grosse Erleichterung. Am Ende eines Textes angekommen zu sein, ist jedes Mal „ein Ritt über den Bodensee“.

Sie haben als Metapher fomuliert: „Die Erzählerin ist die kleinste Puppe in der russischen Matrjoschka, die Geschichte der Kokon um sie herum.“ Was ist denn für Sie der „Kokon“?

Der Kokon ist im Grunde die Sprache, die Erzählung, die Details, der Ablauf eines Ereignisses. Im Grunde ist der Kokon der Zaubertrick, der eine Erzählung erst ausmacht. Schreibe ich vom Krieg, ist der Krieg der Kern der Geschichte und die Erzählung davon ist der Kokon. Der Kokon lenkt den Leser davon ab, mitzukriegen, wie der Krieg funktioniert. Der Kokon lenkt auch davon ab, mitzubekommen, wie ein Schriftsteller arbeitet, wie man Schreiben herstellt, wie man Textur begreift, wie man das Schreiben entstehen lässt. Die Geschichte ist das Rüstzeug für dieses kleine Moment, das in ihr verborgen ist.

„Schreiben imitiert das Leben“ lautet einer Ihrer Leitsätze. Liesse sich davon ableiten, dass Schreiben und Leben nicht gleichzusetzen sind?

Schreiben und Leben sind nicht gleichzusetzen. Das Schreiben formt das Leben um. Schreiben ist eine Art von Widerstand gegen das Mahlwerk der Zeit, gegen das ständige Vorübergehen der Dinge und gegen die Tatsache, dass man im Grunde sehr wenige Möglichkeiten hat, sich dem Leben irgendwie entgegenzustellen. Das Leben macht, was es will. Unser Wohl und Wehe ist von so vielen Dingen abhängig, die wir nicht unter Kontrolle haben. Das Schreiben ist ein davidhafter Widerstand gegen diese grosse Leben, das über uns hinwegrollt, manchmal mehr, manchmal weniger dramatisch.  Schreiben hält den Lauf des Lebens, für die Dauer einer Geschichte wenigstens, auf.

Ist es eine Legende, ist es ein Mythos, dass Ihre Leserinnen und Leser jeweils nach einem gewissen Satz suchen, nach einem ersten Satz, der die Geschichte so richtig in Gang bringen soll?

Wenn es darum geht, zu erklären, wie eine Geschichte funktioniert oder wie sie entsteht, versuche ich dies oft mit bestimmten Bildern zu erklären. So wie auch mit diesem Bild vom ersten Satz, der oftmals der Schlüssel für einen Text ist, ein Satz, den ich höre, oder der zu mir gesagt wird, der vielleicht ganz banal ist, aber der ein Auslöser sein kann für eine Geschichte. Und wenn wir im Gespräch über das Schreiben so weit gekommen sind, gibt es manchmal Leser, die sagen: Ich habe diesen Satz gefunden, ich glaube, es ist dieser oder jener Satz, der für Sie der Schlüssel für den Text gewesen ist. Für mich ist das jeweils etwas sehr Schönes, auch wenn meine Leserinnen und Leser vielleicht auch gar nicht denselben Satz meinen wie der, der es für mich gewesen ist. Es bedeutet dennoch, dass meine Leser im Text einen Ankerpunkt gefunden haben, sie haben „angedockt“, sie haben sich ansprechen lassen, es ist etwas in der Geschichte gewesen, das auf sie übergangen ist. Es ist Etwas, das auch sie getriggert hat, so wie mich zuvor dieser einfache Satz getriggert hat. 

Das Kunstmittel der Verfremdung kennen wir bereits seit Bertolt Brecht, bei ihnen ist er wieder aufgetaucht. Sie verfremden ihre Geschichten. Warum verfremden Sie, was Sie erzählen möchten?

Weil die blosse Wirklichkeit nicht literarisch ist. Man kann die Dinge nicht so stehen lassen, man muss sie umformen. Ein Beispiel? Kürzlich bin ich in Zürich, in der Innenstadt, in ein Antiquariat gegangen, das hiess „Peter-Bichsel-Antiquariat“. Ein sehr schönes Antiquariat mit hohen Buchwänden. In der Mitte an einem Tisch sass der Antiquar. Ich habe ihn gefragt: Warum heisst dieses Antiquariat denn „Peter-Bichsel-Antiquariat“? Der Antiquar sah sehr langsam und sehr abwesend von seiner Tätigkeit auf und hat zu mir gesagt: Weil ich Peter Bichsel heisse. Es war eine völlig absurde Situation. Und dann fragte er mich: Sind Sie jetzt enttäuscht? Ich sagte nein, so leicht sei ich nicht zu enttäuschen, aber ich hätte durchaus doch an den Schriftsteller Peter Bichsel gedacht, ich hätte gedacht, der Name des Antiquariats gehe auf eine grosse Neigung für den Schriftsteller Peter Bichsel zurück. Da sagte er: Nein, diese Neigung habe er durchaus nicht, der Name sei in der Schweiz ganz einfach ein häufiger Name. Ich habe dann einen anderen Buchhändler gefragt, ob denn der Name Peter Bichsel in der Schweiz geläufig sei. Nein, hat dieser gesagt, überhaupt nicht geläufig. Der Schriftsteller Peter Bichsel hätte an dieser Geschichte seine helle Freude gehabt. Er macht einen Punkt, zuvor hat er die Geschichte an einer Stelle jedoch so ein bisschen umgebogen. Dieses Etwas, das er umgebogen hat, gilt es zu finden, um danach das Leben nacherzählen zu können.

Sie schreiben von Figuren, die Ihnen nahestehen. Könnten Sie sich vorstellen, eine Geschichte zu schreiben mit Figuren, die reine Fantasy sind, reine Fiktion?

Ich glaube nicht. Ich glaube, ich komme nicht aus dem Gehege heraus, Figuren zu bauen, die an Menschen angelehnt sind, die ich gekannt habe. Aber ich glaube, das tun auch Autoren, die totale Fantasy schreiben, ich glaube, auch diese Autoren haben eine gewisse Requisite an Charakteren, an Ausdruckshaltung, die angebunden ist an jemanden, den sie kennen. Ich glaube, das ist das Material, das jeder Autor hat: Das eigene gelebte Leben und die Begegnungen, die wir haben dürfen. Die einen verfremden deutlicher und die anderen verfremden weniger deutlich. Ich glaube, ohne die Nähe zu den Menschen kann man nicht schreiben.

Judith Hermann bei ihrer Lesung im Garten des Hotel Regina Terme in Leukerbad. (Bild: Kurt Schnidrig)
Hören Sie das Interview mit Judith Hermann im Originalton. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig)

Das Interview wurde im Auftrag des Walliser Boten geführt und ist bereits in der Online-Ausgabe vom 25. Juni 2023 sowie in der Printausgabe des Walliser Boten vom 26. Juni 2023 erschienen.

Text und Bilder: Kurt Schnidrig