Ein Plädoyer für mehr kreative Verrücktheit

Laufen, um dem Leben neue Perspektiven zu verleihen. Zum Beispiel am „New York Marathon der Alpen“. (Bild: Kurt Schnidrig; Sierre-Zinal)

Die Fasnachtszeit ist auch ein Plädoyer für ein wenig Verrücktheit, für die eigentlich während des ganzen Jahres etwas Platz vorhanden sein müsste.

Kurt Schnidrig

Nach der schrillen Fasnacht kehrt wieder der normale Alltag ein. Die Normalität des Alltags ist der Feind aller Kreativität und aller Fantasie. Und sie ist auch der Feind von Glück und Erfolg.

Sicher kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die bewegende Szene aus dem Griechen-Film »Alexis Sorbas« mit Anthony Quinn. Da sagt Alexis Sorbas zu seinem Chef, dem Schriftsteller Basil: »Verdammt nochmal, Boss, du bist so begabt, nur eines hast du nicht mitgekriegt. Was dir fehlt, Boss, ist Wahnsinn. Denn ein Mann braucht eine Portion Wahnsinn, weil er sonst nicht die Courage hat, auszubrechen, um frei zu sein.« Was dann kommt, könnte Gegenstand sein eines Therapiekurses für gestresste Zeitgenossen. Dann nämlich lehrt Alexis Sorbas seinen Boss, wie man Sirtaki tanzt.

 »Willst du normal sein oder glücklich?» fragen uns nicht wenige Besserwisser in der Ratgeberliteratur. Ein Schuss Verrücktheit scheint heute eine wichtige Zutat zu sein für ein glückliches Leben. Insbesondere die Glücksforschung hat erkannt, dass das Beschreiten von ausgetretenen Pfaden nicht froh macht.

Mit der Verrücktheit verhält es sich wie mit jeder anderen »Droge«. Das Ausmass macht es aus. Ein Schuss Verrücktheit tut es allemal. Nur das Erreichen eines Ziels nach Umwegen und Irrwegen beschert uns ein intensives Glücksgefühl. Auch Paarbeziehungen werden durch einen Schuss Verrücktheit am Leben erhalten.

Ein wenig Verrücktheit bringt die Lust und den Spass zurück. Im Griechen-Film «Alexis Sorbas» holt sich der Schriftsteller Basil seine Portion Wahnsinn mit Hilfe des Sirtaki-Tanzes. Die Portion kreativen Wahnsinn lässt sich auch einfacher holen. Einfach loslaufen. Laufen, um dem Leben neue Perspektiven zu verleihen. Es ist schon erstaunlich, wie viele Läuferinnen und Läufer poetisch veranlagt sind. Von der Ultra-Läuferin Lizzy Hawker – sie organisiert auch bei uns im Wallis Bergläufe – stammt der Satz: «Laufen ist ein Geschenk, das uns ermöglicht herauszufinden, wer wirklich sind.» Und der Schweizer Marathon-Rekordläufer Tadesse Abraham lässt sich zitieren: «Ich bin dafür, dass die Mächtigen der Welt sich regelmässig zum Laufen verabreden, dann wäre Frieden auf Erden.»

Das sind grosse Worte. Sie kamen mir in den Sinn am «New York Marathon der Alpen», am Internationalen Berglauf-Klassiker Sierre-Zinal. Die Glücksgefühle nach einem solchen «verrückten» Lauf sind unbeschreiblich. Ein Lauf wie Sierre-Zinal symbolisiert unser Leben. Es geht zuerst streng bergauf, man muss sich eine gute Ausgangsposition erarbeiten. Hoch oben, auf dem Scheitelpunkt des Laufes (des Lebens), geniesst man eine wundervolle Aussicht. Doch dann geht es bergab und der steil abfallende Abstieg hält viele Fallstricke bereit, vergleichbar mit dem Älterwerden.

Bei einer dieser Austragungen von Sierre-Zinal traf ich auf Michel Jordi, den erfolgreichen Schweizer Unternehmer. Nachdem er diesen «verrückten» Lauf bewältigt hatte, startete er die Produktion seiner erfolgreichen Uhrenmarke, wenig später seinen modischen Ethno-Look, der ihn weltbekannt machen sollte. Auch bei ihm hatte der «verrückte» Lauf der fünf Viertausender einen geistigen Höhenflug ausgelöst.

Verrücktheit ist aber nicht einfach Verrücktheit. Da ist einmal die konstruktive Verrücktheit. Sie müsste einen wichtigen Platz in unserem Leben einnehmen. Die konstruktive Verrücktheit ist der Versuch, »Denkautobahnen« zu verlassen, was in unserer westlichen Gesellschaft immer wichtiger wird.

Die moderne Philosophie geht davon aus, dass der Kapitalismus an einer »instrumentellen Verrücktheit« interessiert ist. »Damit meine ich, dass sich die gegenwärtigen Management-Theorien darum bemühen, dass Menschen einen kreativen Wahnsinn pflegen, der effizient in wirtschaftlich attraktive Projekte umgesetzt werden kann«, meint der Philosoph Andreas Oberprantacher. 

»Jeder Mensch ist wahnfähig, das Verrückte lebt in uns«, schreibt der Psychiater Achim Haug vom psychologischen Institut der Universität Zürich.   Wir alle seien »Kippfiguren«, meint Haug in «Reisen in die Welt des Wahns». Unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit sei wenig »definitiv«. Man könne alles auch ganz anders sehen.

Haben Sie noch alle Latten am Zaun? Diese Frage braucht Sie jetzt nicht auf die Palme zu bringen, liebe Leserin, lieber Leser, auch dann nicht, wenn bei Ihnen tatsächlich die eine oder andere Latte am Zaun fehlen sollte. Denn was berühmte und grossartige Künstler, Dichter, Schriftsteller, Komponisten, Philosophen und Denker gemeinsam haben, das ist vor allem die Tatsache, dass sie nicht alle Latten am Zaun hatten. Sie hatten einen Knall, um die Sprachgebung der Psychotherapeutin Denis Hürlimann zu benutzen.

Für alle, die glauben einen Knall zu haben, oder denen womöglich die eine oder andere Latte am Zaun fehlt, habe ich tröstliche Leidesgenossinnen und Leidesgenossen herausgesucht, die gerade deswegen (wegen dem Knall, wegen der fehlenden Latte am Zaun) die Welt verändert und Grosses geleistet haben.

Dante Alighieri (1262-1331) war schizoid-depressiv; Honore de Balzac (1799-1850) war manisch depressiv; Wilhelm Busch (1832- 1908) war depressiv; Charles Dickens (1812-1870) war manisch depressiv; Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war manisch depressiv schizoid; Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) war schizoaffektiv; Jean-Baptiste Molière (1622-1673) war neurotisch; Francesco Petrarca (1304-1374) litt an Melancholie; Rainer Maria Rilke (1875-1926) war eine schizoide Persönlichkeit; Friedrich von Schiller (1759-1805) war zeitweise depressiv; William Shakespeare (1564-1616) war zeitweise depressiv; Adalbert Stifter (1805- 1868) war manisch-depressiv; August Strindberg (1849-1912) war schizoaffektiv; Leo N. Tolstoi (1828-1910) war depressiv-schizoid neurotisch. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Sie alle haben Grosses geleistet – trotzdem. Oder vielleicht deswegen?

Wer sich gefahrlos eine Portion kreativen Wahnsinn holen möchte, der braucht sich nicht gleich auf die Couch des Psychiaters zu legen. Der braucht auch nicht stundenlang selbst entblössende Gespräche zu führen und schon gar nicht einen Seelen-Striptease zu vollführen. Wagen Sie sich an eine Herausforderung, die Ihnen echt alles abfordert. Oder nehmen Sie sich zumindest eine Auszeit, um in Ruhe einen Roman voller grosser Gefühle zu lesen. Eine »Romantherapie« lässt sich womöglich ärztlich verschreiben und bestimmt übernimmt die Krankenkasse die Therapiekosten anstandslos.

Text und Bild: Kurt Schnidrig. Dieser Text erschien auch in der „Bücherecke“ im Online Portal von pomona.ch/rro