Patricia Aschiliers Fahrt ins Blaue

Sie war für mich ein Headliner am rro-Frühlingsfest: Patricia Aschilier, Autorin zweier überraschender Bücher. Ihr Erstling „Eine Fahrt ins Blaue“ passte perfekt zu einem literarischen Frühlingsfest. In der literarischen Romantik war die blaue Farbe die Farbe der Sehnsucht, der Wanderschaft und des Fernwehs. Patricia Aschiliers Geschichte „Eine Fahrt ins Blaue“ pervertiert die romantischen Vorstellungen in extremis. Doch ist dies durchaus auch im Sinne der literarischen Romantik, die dem Dunklen, dem Jenseitigen und Verhängnisvollen einen wichtigen Platz einräumt.

Die Geschichte geht unter die Haut. Sie beschäftigte mich während Tagen. Warum? Weil die Story so unheimlich und erschreckend geradlinig und konsequent gebaut ist, wie ich dies in der deutschsprachigen Literatur bisher nur selten zu lesen bekam. Doch davon später. Zuerst kurz zum Inhalt. Die Gymnasiasten Edmund (Edi) Gerber und Gerda Kaiser sind ineinander verliebt. Edi hat viele Neider, denn er ist der Beste, der Schnellste und der Wichtigste. Einige seiner Klassenkameraden hassen ihn. Besonders hasst ihn Willi, dessen „Schwarm“ Antoinette sich zu allem Überfluss auch noch um Edi bemüht. Beim Abschlussfest auf dem Katzensee kommt es zur Katastrophe. Die Verschwörer provozieren einen Bootsunfall, bei dem Nichtschwimmer Edi ertrinkt. Die Klassenkameraden schauen fast ausnahmslos zu ohne einzugreifen und ohne zu helfen. Gerda beschliesst, sich an den Verschwörern zu rächen. Nach vielen Irrungen und Wirrungen, die Gerda als Ärztin ohne Grenzen rund um den Globus führen, mündet die spannende Geschichte in einen Showdown, der es in sich hat.

Gerda, entwurzelt und zu einer neuen Liebe unfähig, überredet die befreundete Krankenschwester Sonja, ihr bei der Vollstreckung der Rache zu helfen. Gerda lädt die Schulfreunde zu einer „Fahrt ins Blaue“ ein.  Auf dem Katzensee, dort, wo die Schulfreunde vor 31 Jahren Edi ertrinken liessen, beschwört Gerda wie eine antike Rachegöttin die Erinnerungen an den Tod ihres Geliebten herauf.  Mit unheimlicher Szenerie befördert sie ihre ehemaligen Schulfreunde vom prallen Leben zum qualvollen Sterben.  Sie setzt ihren Racheplan ohne Rücksicht auf Verluste um, und das bis zum (auch eigenen) bitteren Ende.

Die Lektüre hat mich schockiert, vor allem weil die Handlung nicht den geringsten Ansatz von Nachsicht oder von versöhnlicher Stimmung bei Gerda aufkommen lässt.  Einzige Ausnahmen sind Agathe Egger (sie endet in Depression) und Dorli Weber (sie entschuldigt sich). Die Lektüre hat mich auch deswegen schockiert, weil von der Protagonistin Gerda der Gedanke sich Hilfe zu holen, die Polizei einzuschalten oder den Rechtsweg zu beschreiten niemals ernsthaft erwogen wird. Die Ärztin Gerda, die ihrem sozialen Gewissen folgt und – kaum hört sie einen Hilferuf im Radio – immer bereit ist, den nächsten Flug in ein Katastrophengebiet zu nehmen, wie nur kann sie als Rachegöttin eiskalt den eigenen Untergang und jenen ihrer früheren Schulfreunde heraufbeschwören? Ganz zu schweigen von der Mittäterschaft, der sich unter Berufseid stehende Medizinerinnen, insbesondere die Krankenschwester Sonja und die mitwissende Ärztin Regina, schuldig machen.

Der Geschichte ist zugute zu halten, dass sie perfekt motiviert ist. Die Protagonistin verliert nicht nur ihren geliebten Schulfreund Edi, sie verliert später auch noch den Arztkollegen Luc und die Arztkollegin Regina durch erschütternde Unfälle. Der Wunsch nach Rache verstärkt sich nach dem Krebstod der Mutter, die ihrer Tochter keine Hilfe mehr sein kann. Und als Carlo, den sie bei einer Zwischenlandung in Istanbul kennenlernte, sich als Feigling entpuppt und Suizid begeht, und als dann die Protagonistin Gerda auch noch unheilbar an Brustkrebs erkrankt, kann die Hilflosigkeit zusätzlich in den Abgrund führen. Apokalyptisch und pervertiert wirkt die Fahrt ins Blaue durch die Anlehnung an „Das letzte Mahl“ (Abendmahl Jesu mit den Aposteln?), bei dem die Schulfreunde den letzten „Kelch“ mit den tödlichen Medikamenten serviert bekommen.

Um ein ähnliches Handlungsmuster zu finden, muss ich die französische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts bemühen. Um 1846 schrieb Alexandre Dumas den Abenteuerroman „Der Graf von Monte Christo“. Auch hier sind Liebe, Schuld, Sühne und Rache die beherrschenden Themen. Dem Seemann Edmond Dantès lacht alles Glück dieser Erde und er liebt die Katalanin Mercédès. Doch es treten Neider auf den Plan. Seine Karriere und seine Liebe zu Mercédès werden Dantès zum Verhängnis. Mit Hilfe einer Verschwörung räumen die Neider Dantès aus dem Weg. Begünstigt durch Zufälle kehrt Dantès jedoch zurück und rächt sich an seinen Neidern.

Der Roman von Alexandre Dumas hat einen ähnlichen Handlungsverlauf wie „Die Fahrt ins Blaue“ von Patricia Aschilier. Ein grosser Unterschied besteht jedoch darin, dass der Dumas-Klassiker in einer versöhnlichen und nachdenklichen Stimmung endet. Geläutert durch die Erfahrungen eines bewegten Lebens schenkt er seinen Feinden zumindest das Leben. Das Menschliche obsiegt über die brutale Rache.

Soll hohe Literatur, sollen grosse Romane auch eine Botschaft an die Leserschaft vermitteln?  Sollte Romanliteratur auch eine Läuterung bei der Leserschaft bewirken? Gemäss der antiken Katharsis-Lehre schon. Gemäss der fatalistisch-nihilistischen Literaturtheorie nicht. Die Kriminalgeschichte „Eine Fahrt ins Blaue“ ist wohl eher der fatalistisch-nihilistischen Literaturtheorie zuzuordnen.

Quellen:

Patricia Aschilier: Eine Fahrt ins Blaue. Kriminalgeschichte. Buchverlag der Regionalzeitung Aletsch Goms AG, Fiesch. 3. Auflage. November 2016. ISBN 978-3-9524120-9-1 .

Zum Bild: Autorin Patricia Aschilier am literarischen Frühlingsfest live aus dem Studio Barrique in Eyholz. Foto: Valérie Schnidrig.