Der Spycher Literaturpreis ging dieses Jahr an den deutschen Schriftsteller Thomas Lehr. In einer wunderschönen, gediegenen und eindrücklichen Feier traf sich heute Sonntag, 16. September, im Schloss Leuk, was in Literatur und Kultur so Rang und Namen hat. Die Protagonisten des Tages waren freilich der Geehrte Thomas Lehr mit seiner Frau Dorothea Kern (Bild oben). Die Staatsratspräsidentin und Vorsteherin des Departements für Kultur, Gesundheit und Soziales, Esther Waeber-Kalbermatten, überbrachte die Gratulationen der Regierung, und Arnold Steiner, der Präsident der Stiftung Schloss Leuk, überreichte den Spycher Literaturpreis.
Der Präsident der Stiftung Schloss Leuk, Arnold Steiner, stellte den 61-jährigen Schriftsteller Thomas Lehr als einen Freund der Walliser Berge und unseres Landes vor. Thomas Lehrs Roman mit dem Titel „42“ spielt in der Schweiz. Schauplätze sind insbesondere die Städte Montreux und Lausanne. Das Wallis diene bis anhin zwar noch nicht als Kulisse in Lehrs Romanen, meinte Steiner, aber immerhin habe Thomas Lehr bereits den Walliser Rotwein kennengelernt. Arnold Steiner zitierte Rilke und sein Gedicht „Herbsttag“, das in diesem Spätsommer in besonderer Weise zutreffe, denn just in diesen letzten warmen Spätsommertagen habe die Sonne „die letzte Süsse in den schweren Wein“ gejagt. Die Türen und Herzen der Leukerinnen und Leuker würden für Thomas Lehr weit offenstehen, führte Steiner weiter aus. Steiner erläuterte des weiteren auch die symbolische Bedeutung des Spycher Literaturpreises. Hätten früher die Spycher dazu gedient, die lebenswichtigen Vorräte zu schützen und zu bewahren, würden im literarischen Spycher nun die Worte gespeichert.
Brunhilde Matter moderierte die Feier als Einheimische mit viel Fachwissen und mit Einfühlungsvermögen. Gerade auch für die Leukerinnen und Leuker sei der Dialog mit Thomas Lehr und mit seiner Frau Dorothea Kern von grossem Gewinn. Arnold Steiner seinerseits entführte die Zuhörerschaft in die frühe Leuker Geschichte. Die Bevölkerung habe in früher Zeit nicht selten zu leiden gehabt unter Willkür und Machtinteressen, und sogar Todesurteile gegen Hexen seien im Schloss Leuk gefällt worden. Oft seien Frauen als Hexen verschrien worden, die nicht in ein Denkschema gepasst hätten. Es gelte nun, die Zeitgeschichte zu durchdringen und Verständnis für frühere Zeiten zu wecken. Auch dazu könne der Dialog beitragen. Heute jedoch sei das Schloss Leuk erfüllt von freudigen Anlässen, von Musik, Tanz und Literatur. Arnold Steiner hiess Thomas Lehr und Frau Dorothea Kern herzlich willkommen. Sie sollten sich in Leuk wie zu Hause fühlen.
Staatsratspräsidentin Esther Waeber-Kalbermatten überbrachte die Gratulationen der Regierung. Der Spycher Literaturpreis sei nun ins Erwachsenenalter eingetreten, er habe sich weitherum etabliert. Sie hiess Thomas Lehr auch im ganzen Kanton Wallis herzlich willkommen. Esther Waeber-Kalbermatten berichtete alsdann auch von ihren eigenen Leseerfahrungen. Thomas Lehrs Roman „Schlafende Sonne“ habe sie bereits zu lesen begonnen. Es sei dies ein Buch, das sie fasziniere. Die Staatsratspräsidentin rühmte Thomas Lehrs Sprache, seine Beschreibungen von Menschen und Situationen. Das alles sei „eine mundende Kost“, meinte sie abschliessend. Sie wünschte Thomas Lehr im Wallis viel Freude, Inspiration und spannende Begegnungen.
Im Namen der dreiköpfigen Jury trat Jurypräsident Thomas Geiger vors Mikrofon. Thomas Lehr sei einer, der die Landschaft zu schätzen wisse, gab sich Geiger überzeugt. Eine besondere Begründung dafür, den Spycher Literaturpreis Thomas Lehr zuzusprechen, sehe er in der Vielseitigkeit des Autors. Er verstehe es, verschiedene Disziplinen wie Philosophie, Geschichte und Kunst in seine literarischen Werke einfliessen zu lassen. Thomas Geiger bedauerte einzig, dass bis anhin so wenig Frauen mit dem Spycher Literaturpreis hätten ausgezeichnet werden können.
Die Laudatio hielt der Literaturkritiker Helmut Böttiger. Er bezeichnete Thomas Lehr als einen Schriftsteller, der sich jedes Mal als ein anderer ausgebe. Er schreibe Romane zwar im klassischen Sinn, aber auch mit Übertreibungen. Dabei verhandle Thomas Lehr in seinen Romanen die ganz grossen Themen. Als Beispiel hob er die sexuelle Befreiung der 60er- und 70er-Jahre hervor, die der Autor im Roman „Nabokovs Katze“ heraufbeschwört. Der Roman ist eine erotische Annäherung und eine Hommage an Nabokov. Der Schriftsteller spiele mit der Welt, diese jedoch lasse sich einfach nicht erklären, meinte Böttiger. Er wies auch darauf hin, dass sich Thomas Lehr nicht um Erwartungen schere und auch nicht um literarisches Kalkül. Sein breit gefächertes Spektrum umfasse Geschichtspanoramen ebenso wie Satiren oder auch märchenhafte orientalische Anklänge. Besonders auch im ersten Band der geplanten Trilogie „Schlafende Sonne“ setze er konkrete historische Ereignisse passend um in erratische Bilder. Im Übrigen bezeichnete er Lehrs Romane als „Spiralromane“, die, ausgelöst von einem inneren Wirbel, sich in einer Drehbewegung weiterentwickeln würden. Böttiger schloss seine sehr sachbezogene Laudatio mit dem Resümee, dass in Lehrs Werken die Realität immer einen Hinterhalt habe.
Die Preisübergabe durfte Arnold Steiner als Präsident der Stiftung Schloss Leuk vornehmen. Seit 2001 vergibt die Stiftung den Spycher Literaturpreis in Leuk-Stadt. Die Auszeichnung ist mit einem bis zu zweimonatigen Gastrecht verbunden.
In seiner Dankesrede erwies sich Thomas Lehr als ein Bewunderer des Wallis. Die Literaturkritik habe über ihn geschrieben, er produziere literarische Achttausender. Hier im Wallis werde er zumindest die Höhe von Viertausendern zu erreichen versuchen, meinte Lehr. Seine Bewunderung gelte den Menschen und den Bergen des Wallis. Beste Erinnerungen habe er auch an Zermatt und das Matterhorn. Er sei ihm früher bereits einmal geglückt, das Matterhorn aus der Nähe „anstarren“ zu dürfen. Vielleicht hätte er es sogar besteigen können. Er habe sich aber jetzt vorgenommen, das Matterhorn zumindest wandernd zu „umrunden“. Mit Thomas Lehr hat die Jury eine der eindringlichsten Stimmen der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur ausgezeichnet, die sich nicht scheut, Zeitgeschichte in Literatur zu verwandeln.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig