Im Reitstall „Cavallo“ in Baltschieder, wo auch unser Familienpferd „Fibi“ steht, leben wir einer ganz besonderen Philosophie nach. Die Philosophie nennt sich abgekürzt „Parelli“. Die Philosophie ermöglicht es, wirklich exzellente Resultate mit dem Pferd zu erreichen. „Parelli“ ist allerdings keine Reitart, sondern eine Grundausbildung für Mensch und Pferd. Wer „Parelli“ kann, der ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „Pferdeflüsterer“. Vor vierzig Jahren gründete der US-Amerikaner Pat Parelli ein Ausbildungsprogramm, welches er „Parelli Natural Horsemanship“ nannte.
Horse-Man-Ship bedeutet einfach übersetzt: Das Pferd und der Mensch tun etwas gemeinsam. Dabei lässt sich unterscheiden zwischen drei Arten: Chemisches Horsemanship, Mechanisches Horsemanship und Natürliches Horsemanship. Nur ganz kurz erklärt: Wenn Pferde für Umzüge, zum Beschlagen oder Einladen sediert werden, also mit Medikamenten ruhig gestellt werden, sind dies alltägliche Situationen für chemisches Horsemanship. Auch für mechanisches Horsemanship lassen sich leicht alltägliche Beispiele finden, alle Arten von Hilfszügeln gehören etwa dazu. Chemisches und mechanisches Horsemanship haben die Verantwortlichen des „Cavallo“ ganz aus ihrem Reitstall verbannt.
Philosophische Literatur. Die Parelli-Philosophie gehört zum Natural Horsemanship. Der natürliche Umgang mit dem Pferd steht dabei im Vordergrund. Dies bedingt, dass der Mensch sich mit dem Charakter und dem Wesen des Pferdes auseinandersetzt. Pferde sind Fluchttiere, entsprechend verfügen sie über für uns ungewohnte Verhaltensweisen. Eine gut funktionierende Kommunikation zwischen Mensch und Tier ist deshalb von immenser Bedeutung. Es ist dies jedoch eine Kommunikation, die nicht mit Hilfe von Zügel, Sporen und Peitsche funktioniert. Es geht vielmehr darum, das natürliche Verhalten des Pferdes kennenzulernen und dieses Wissen in einer gegenseitigen Kommunikation anzuwenden, die auf Respekt und Vertrauen zwischen Mensch und Tier basiert. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob man Englisch oder Western reitet, ob man mit seinem Pferd gar Ambitionen im Sport hat, oder ob man einfach mit seinem Pferd nur die Freizeit verbringen möchte.
Die „Seven Games“ des Pferdeflüsterers. Ein Pferdeflüsterer ist kein Zauberer. Spielerisch baut er Vertrauen und Respekt zum Tier auf. Dies geschieht mit den bewährten Seven Games, sie werden anfangs „On Line“ gespielt, später erst „At Liberty“. Das „Friendly Game“ etwa dient dazu, die Aufmerksamkeit des Pferdes zu erhalten und Vertrauen aufzubauen. Ich konfrontiere mein Pferd mit einer ungewohnten Situation, die es erschrecken könnte. Im Idealfall bleibt das Pferd ruhig und gelassen, was grosses Vertrauen zu mir beweist. Beim „Stachelschweinspiel“ (Porcupine Game) übe ich einen unangenehmen Druck auf eine beliebige Stelle des Pferdekörpers aus. Den Druck bringe ich sofort zum Verschwinden, wenn das Pferd ihm weicht. Unmittelbar danach folgt ein vertrauliches Einreiben der Stelle, um dem Pferd zu sagen, dass seine Reaktion richtig war. Weitere Spiele sind etwa das „Jo Jo“, bei dem ich das Pferd mit einem Wedeln des Seils vorwärts und rückwärts schicke, oder das „Circling Game“, das ist eine feinere Art des Longierens, bei der ich dem Pferd vermittle, an einem Seil im Kreis um mich herum zu laufen, und zwar in der Gangart, die ich ihm vorgebe.
Intelligenz ist überlebenswichtig. Aus Pferdebüchern und insbesondere aus der Forschungsliteratur über Pferde lässt sich viel Spannendes und Faszinierendes entnehmen. Braune oder schwarze Pferde halten sich grundsätzlich von hellen und weissen Pferden fern, und das sogar im eingezäunten Freilaufstall. Weshalb tun sie das? Es handelt sich dabei wohl um „kluge Voraussicht“, denn früher, als die Wildpferde in freier Wildbahn noch sich selber überlassen waren, hatten sie gelernt, sich vor den Angriffen von Raubtieren zu schützen. Weil aber weisse Pferde weithin sichtbar sind und eine für Raubtiere ideale Angriffsfläche bieten, halten sich die braunen und schwarzen Pferde von ihren weissen Artgenossen fern. Keine Frage, unsere Pferde sind intelligent! Dass sich die Intelligenz sogar auch noch fördern lässt, das beweist die Verhaltensforscherin Dr. Vivian Gabor in ihren Büchern.
Pferde lieben Mathematik. Die Verhaltensliteratur über Pferde offenbart Grossartiges. Die Autorin Dr. Vivian Gabor zeigt, wie Sie Ihrem Pferd zählen beibringen können. Das soll die Intelligenz (des Pferdes) fördern, motivieren und sogar beim Reiten helfen. Die Forscherin hat „Untersuchungen zu höheren kognitiven Leistungen beim Pferd“ an der Universität Göttingen angestellt. Sie kam zum umwerfend spektakulären Ergebnis: Pferde können bis fünf zählen! „Das Zählen läuft bei Pferden vermutlich nicht so ab, dass sie 1, 2, 3, 4, 5 zählen, denn sie erkennen Summen direkt – wenn man ihnen das beigebracht hat“, doziert Dr. Vivian Gabor.
Besserwisser. Soll ich jetzt unserem Pferd das Zählen beibringen? Nun, es sei eingestanden, die Mathematik gehörte nie zu meinen ganz grossen persönlichen Stärken. Und Summen direkt erkennen, so wie das Pferde anscheinend können? In solchen Fällen rettet mich auch heute noch der Taschenrechner. Sollte mich also unsere „Fibi“ dereinst in Mathe überflügeln, wäre der offene Streit unter uns „Besserwissern“ programmiert. Natural Horsemanship hin oder her…
Text und Fotos: Kurt Schnidrig