Am Ende ihrer Träume: „Kapitulation“!

Im Roman der Thurgauer Schriftstellerin Michèle Minelli haben die Frauen gekämpft, verloren und kapituliert. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die Thurgauer Schriftstellerin Michèle Minelli schockiert mit „Kapitulation“, einem Roman über gescheiterte Frauen. Es geht um Frauen, die auf der ganzen Linie verloren haben. Irgendwann mussten die Frauen aufgeben und haben resigniert. Und warum? Wohl vor allem deshalb, weil es immer noch zu viele männerdominierte Plattformen gebe, wird moniert, vor allem in der Kultur. Um uns dies exemplarisch vor Augen zu führen, erzählt die Autorin Michèle Minelli von einer Handvoll kunstschaffender Frauen, die mit grossen Träumen aufgebrochen waren, um die Welt der Kultur und der Kunst zu erobern. Im Rahmen eines Kunststipendium-Programms hätten sie ihre eigenen Möglichkeiten ausloten und ausleben können. Nun, nach 18 Jahren, lädt die ehemalige Präsidentin des Programms zu einer Réunion ein. Die Chefin ist mittlerweile unheilbar an Krebs erkrankt. Sie möchte nochmals die Frauen wiedersehen, die sie gefördert hat, und die ihre frühere von Glück begünstigte Berufszeit begleitet haben. Vier Frauen sagen zu. Die Frage stellt sich, ob sie ihre Chancen und Möglichkeiten wahrgenommen haben. Die Antwort der Frauen lautet durchwegs: Kapitulation!

Die Frauen haben kapituliert. Da ist zum Beispiel Aina, eine schweizerisch-kasachische Aktionskünstlerin. Sie hat es gerade mal zur Aufseherin in einem Kunsthaus gebracht. Oder die Schottin Kirsty, sie hat mit viel Vorschusslorbeeren eine Karriere als Literatur-Übersetzerin anvisiert. Ihre Arbeit hatte jedoch in der Literaturwelt keine Anerkennung gefunden, sie wurde mit ihrem Lebenswerk einzig zu einem zweifelhaften Wettbewerb nach Edinburgh eingeladen. Und da ist auch noch die Wienerin Brigitte, ein vielversprechendes Bratschen-Talent. Brigitte hat jedoch ihre Bratsche längst gegen einen Zoo-Kittel eingetauscht und mimt im Zoo zur Erheiterung des Publikums einen Primaten, einen Menschenaffen. Und schliesslich macht uns die Autorin vertraut mit der französischen Star-Autorin Chloé. Auf Anweisung ihres Literaturagenten darf sie bloss noch schlanke Büchlein und dürftige Kurzgeschichten verfassen, weil sich ihre seitenstarken Romane anscheinend schlecht verkaufen würden. Die eingeladenen Frauen müssen sich und ihrer ehemaligen Chefin eingestehen: Das Studium hat ihnen nichts gebracht, das Stipendium war rausgeschmissenes Geld. Irgendwann kam es zur Kapitulation.

Am Ende ihrer Träume angelangt, offenbart sich für die Frauen die weibliche Lebensrealität. Ob geschieden, verwitwet, verheiratet, mit oder ohne Kinder – das Résumé der Frauen fällt beklemmend aus. Nach ausgiebigem Gelage mit Speis und viel Trank entspannt sich die Runde. Inmitten des weiblichen Galgenhumors keimt plötzlich die Frage auf: Wie viel Platz steht uns Frauen heute zu? Die Frauen unterhalten sich über verpasste Möglichkeiten und über verkorkste Chancen. Und plötzlich scherzt die eine: Wenn unser Platz schon so verschwindend klein ist, was wäre, wenn wir alle ganz verschwinden würden – alle Frauen auf einen Streich?

An einem Flashmob lösen sich alle Frauen in Luft auf! Was vier der Frauen als schlechten Witz erkennen und bald wieder vergessen, nimmt Aina, die erfolglose schweizerisch-kasachische Aktionskünstlerin, todernst. Sie macht aus ihrer subversiven Veranlagung keinen Hehl. Am nächsten Arbeitstag geht sie ins Zürcher Kunsthaus mit einem verhängnisvoller Plan, der sie das Leben kosten könnte…

Ein kämpferischer Frauen-Roman? Nein, Autorin Michèle Minelli möchte ihren Roman als „Gesellschaftsroman“ verstanden wissen. Warum? Damit die Männer das Buch auch lesen sollen. Es trifft jedoch zu, dass die Autorin ihr Buch mitten in Kampfgebiet der Gleichberechtigung ansiedelt. Auf dem Feld der Gleichberechtigung gebe es immer noch einen Kampf, der viele Opfer von Frauen erfordern würde. In „Kapitulation“ geht es folglich um mehr als bloss um Frauengeschichten. Es geht um die Frauen im Europa der Gegenwart, und es geht um deren Kampf um Gleichberechtigung, der unserer Gesellschaft noch bevorsteht. Nur, die Frage sei erlaubt: Wenn frau die Männer ins Boot holen möchte, weshalb dann diese martialischen Töne? Ein Kampf schafft Fronten. Und wer kämpft, muss mit einer Kapitulation rechnen.

Die feministische Literaturkritik führte bereits in den 80er Jahren eine lange Debatte darüber, ob es eine spezifisch „weibliche Schreibe“ gebe oder nicht, und wenn ja, ob diese an der Kategorie „Sex“ oder „Gender“ festzumachen sei. Die Literaturwissenschaft ist sich einzig darin einigermassen einig, dass ein „weiblich perspektiviertes“ Werk signifikante Unterschiede gegenüber einem „männlich perspektivierten“ zeitgenössischen Werk aufweisen kann. Die Debatten haben zu einer kritischen Reflexion auch über den Begriff „Frauenliteratur“ selbst geführt. Erst im mittleren 20. Jahrhundert schafften es Autorinnen wie Marie Luise Kaschnitz, Marieluise Fleisser und Else Lasker-Schüler, in den literarischen Kanon aufgenommen zu werden. In der aktuellen Literaturkritik wird die abgegriffene und ambivalente Kategorie der „Frauenliteratur“ eher vermieden. Ob jedoch der Begriff „Gesellschaftsliteratur“ dem Anliegen von Büchern wie „Kapitulation“ von Michèle Minelli gerecht wird, darf bezweifelt werden. „Kapitulation“ ist wohl eher einer neuen Form von deutschsprachiger Frauenliteratur zuzurechnen, die erstmals in den 1970er Jahren in Westdeutschland auftauchte. Es waren dies vorwiegend Erfahrungsberichte aus dem weiblichen Alltag, die sich durch ihre experimentelle literarische Form auszeichneten, und die das Problem weiblicher Produktivität selbst mitreflektierten. Dieser literarischen Entwicklung schliesst sich „Kapitulation“ von Michèle Minelli nahtlos an.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch „Kapitulation“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Joel Bieler)

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig