„Entgrenzen“ war ein wichtiges Fokus-Thema im Literaturjahr 2022. Grenzen überspringen und Grenzen sprengen war angesagt. Die Literatur-Szene etablierte ganz neue Gesellschafts-Modelle. Gleich mehrere Ereignisse waren dafür verantwortlich.
Die Grenzöffnungen nach langen Monaten der Pandemie und die Willkommens-Kultur für die Geflüchteten, insbesondere aus der Ukraine, haben gezeigt, wie Diskurse um und über Grenzen von politischen Gegebenheiten abhängig sind. Politische Fragestellungen beschäftigten die Autorinnen und Autoren: Wie gehen wir mit der Festung Europa um? Welcher Platz gebührt der Ukraine in einem geeinten Europa?
Körperlich-physische Grenzüberschreitungen lieferten Stoffe für so manche Literatur-Story. Mit welchen Mitteln lässt sich gegen körperliche Grenzüberschreitungen vorgehen, wie zum Beispiel gegen ein Abtreibungs-Verbot? Und vor allem: Wie wirken sich Krieg, Migration und Flucht in spezifischer Art und Weise auf den Menschen aus?
In der Gender-Debatte kommt das Thema „Grenzen überspringen, Grenzen sprengen“ ganz besonders zum Zug. Die Abräumer und Kassenschlager in der nationalen und internationalen Literatur-Szene waren insbesondere nicht-binäre Persönlichkeiten und genderfluide Menschen. Nicht wenige Schreibende brachen mit Tabus und stellten die bipolare Ausrichtung, das Rollenverhalten von Mann und Frau, grundsätzlich in Frage.
Einflüsse auf die Sprache waren eine Folge davon. Im Umgang mit Grenzen, im Aufbrechen von bisher streng tabuisierten Inhalten, formte sich eine völlig anders geartete Literatur-Sprache.
Eine wichtige gesellschaftliche Funktion kam der Literatur zu. Sie spielte eine Vorreiter-Rolle für gesellschaftliche Prozesse. Neue Rollenbilder für Mann und Frau und für „diverse Personen“ entstanden. Die weltweite Krisen-Situation, der Krieg und die Versorgungs-Engpässe mit Energie und mit anderen lebenswichtigen Ressourcen werden die Schreibenden auch künftig beschäftigen. Literatur wird auch weiterhin politische Themen zu transportieren und neue Gesellschafts-Formen zu etablieren haben.
Die Fantasie darf innerhalb dieser themen- und gesellschaftspolitisch orientierten Literatur nicht verloren gehen. Das magische Denken und Schreiben muss auch weiterhin Räume schaffen und Anderswelten, in die Leserinnen und Leser abtauchen können. Literatur gegen den Tunnelblick, Literatur, die eine Weitwinkel-Perspektive eröffnet und neue Lebensformen propagiert, ist gefragt.
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig