Der „Nussknacker“ und „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“ unter Palmen?

Auf dem traditionellen Weihnachtsmarkt in Colmar im Elsass. (Bild: Schnidrig)

Die gemütliche Stimmung zu Hause, wenn in der Stube die Lichter am Christbaum brennen und leuchtende Kinderaugen auf das Christkind warten, dazu zauberhafte Geschichten, Märchen und Lieder – das ist die traditionelle Weihnacht aus früherer Zeit.

Hat sich das traditionelle Weihnachtsfest überlebt? Wie hat sich unsere Einstellung zu Weihnachten verändert? Bestimmt gibt es die traditionellen Weihnachten auch heute noch, und wer Weihnachten feiern möchte, so wie es früher war, der kann sich glücklich schätzen.

Trotzdem sei die Frage erlaubt: Glauben unsere Kinder heute noch ans Christkind? Hat die biblische Geschichte von Maria und Josef im Stall von Bethlehem noch so viel Kraft, dass wir den Zauber der Weihnacht noch spüren und mit allen Sinnen erleben können? Vielleicht.

Was wir jedoch ungeschminkt zur Kenntnis nehmen müssen: Nicht wenige Mitmenschen suchen heute nach einem anderen Sinn von Weihnachten, vielleicht auch nach einem zusätzlichen Sinn von Weihnachten. Wir alle sind weltoffener geworden und multikulturell.

Die eine Familie fliegt über Weihnachten nach New York und feiert dort American Christmas. Eine andere Familie fliegt in die Karibik und möchte der Kälte und dem romantischen Kitsch des hiesigen Weihnachtsgeschäfts entfliehen.

Der modernen Mobilität geschuldet, brechen viele von uns nach neuen Ufern auf. Gerade auch zur Weihnachtszeit. Sie alle sind für neue Weihnachtsgeschichten verantwortlich. Die neue Zeit erträgt die traditionellen Geschichten und Märchen nicht mehr. „Der Nussknacker“ unter Palmen – eine Karikatur!

Was aber möchte man sich zur Weihnachtszeit in der Karibik unter Palmen erzählen? Oder zu „American Christmas“ in New York? Um entsprechende Geschichten zu finden, ist es vonnöten, die Werte und den Sinn des Weihnachtsfestes zu verstehen.

An Weihnachten steht das Zusammensein im Familienkreis zuoberst auf der Wunschliste. Weihnachten ist das Fest der Liebe, das Fest, das sich für einen Rückblick und für einen Ausblick auf das Kommende eignet. Und zu derartigen Themen gibt es passende Weihnachtsgeschichten und Bücher mit weihnachtlichem Gedankengut.

Ein Beispiel dafür ist das Buch „Wohnverwandtschaften“ von Isabel Bogdan. Sie erzählt die Geschichte von ganz verschiedenen Menschen, die sich zu Weihnachten treffen, um sich aus ihrem Alltag zu erzählen.

Jede und jeder hat viel Ungemach zu beklagen. Die Wohngemeinschaft erzählt sich aber auch von den eigenen Träumen, Wünschen und Sehnsüchten. Und dergestalt finden sich die Menschen zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, die sich beisteht und hilft. Ist dies nicht doch auch eine zauberhafte moderne Weihnachtsgeschichte?

Was aber ist mit jenen Zeitgenossen, die mit Weihnachten rein gar nichts mehr am Hut haben? Sie tauchen ab in spannende Abenteuer. Dazu finden sich beispielsweise Kriminalromane, die immerhin auch noch entfernt etwas mit Weihnachten zu tun haben.

„Ein Brief aus München“ – so heisst der neuste Krimi des vielleicht besten Krimi-Autors der Gegenwart, des Schweden Hakan Nesser. Darin lädt ein Künstler nach vielen Jahren wieder einmal seine Brüder und Schwestern zum Weihnachtsfest ein. Eine harmonische Stimmung will dabei jedoch nicht aufkommen. Im Gegenteil. Der Künstler selbst überlebt den Weihnachtsabend nicht und wird am Heiligen Tag, am 25. Dezember, tot aufgefunden. Das Ermittler-Paar Eva und Gunnar übernehmen den Fall und versuchen herauszufinden, ob es sich dabei um einen geplanten Mord im engsten Familienkreis handelt. Ein hoch spannender Krimi. Das Gegenteil von traditioneller Weihnachtsliteratur.

Traditionelle oder moderne Geschichten zu Weihnachten? Meine Meinung: An die wundervollen und zauberhaften Weihnachtsgeschichten von früher kommen heutige Geschichten niemals heran. „Der Nussknacker“, „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“ oder vielleicht sogar die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium – es sind dies Geschichten von bleibendem Wert, Geschichten auch, die Generationen verbinden.

Unsere Welt und unsere Gesellschaft entwickeln sich weiter. Die Literatur, die Geschichten, passen sich der Welt an, die wir haben und in der wir leben. Wir haben keine andere Welt. Jede und jeder muss für sich selbst herausfinden, welche Art von Weihnachtsgeschichten, traditionell oder modern, der jeweiligen Gemütslage entsprechen.

Hören Sie dazu den Podcast aus der Sendung Literaturwelle von Radio Rottu Oberwallis. (Quelle: rro / Jelena Kalbermatten / Joel Bieler / Kurt Schnidrig)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig