Sich immer wieder mal neu erfinden: Über die Lust nach Veränderung

Ein Flug mit dem Gleitschirm kann ein Anfang sein, um mutig und fantasievoll neue Wege zu beschreiten. Unser Literaturexperte Kurt Schnidrig war in luftiger Höhe unterwegs. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Wer sich verändern will, muss sich in seinem Leben neuen Herausforderungen stellen.

Wir sind wandlungsfähiger geworden. Der heutige Mensch befindet sich in ständigem Wandel. Von Rastlosigkeit getrieben, strebt er stets nach mehr. Früher war das Leben mit dem Erreichen der Volljährigkeit durchgeplant. Der familiäre, berufliche und persönliche Lebensweg war festgesetzt. Und daran änderte sich bis zur Pension meist nichts. Heute ist das anders.

Man lebt sein Leben eher in Lebensabschnitten. Die Leute durchleben verschiedene Lebensphasen. Man wechselt die Partner, den Beruf, die Freunde. Und mit den Wechseln im Umfeld ändert sich die eigene Persönlichkeit. Die Leute werden flexibler und multipler. Sich immer wieder mal neu zu erfinden, kann uns neue Chancen eröffnen.

Unsere Persönlichkeit ist jedoch mit vielfach erprobten Gewohnheiten ausgestattet, die sich im Verlauf der Jahre verfestigt haben und vollautomatisiert ablaufen. Deshalb braucht es eine Abkehr von vorherigen Gewohnheiten, um eine Persönlichkeitsentwicklung anzustossen.

Eine Möglichkeit für eine gezielte Persönlichkeitsveränderung ist, sich Herausforderungen zu stellen, von denen man weiss, dass sie die gewünschte Veränderung zur Folge haben. Es geht darum, aus der Tretmühle des Alltags auszubrechen und Neues zu versuchen. So kann zum Beispiel ein Flug mit dem Hängegleiter dazu befähigen, eine anstehende Lebensaufgabe ohne Angst und erfolgreich zu meistern.

Das unitäre Selbst im Wallis

Das unitäre Selbst im alten Wallis hat lange Zeit eine Entwicklung der Persönlichkeit verhindert. Bräuche, Riten und Vorschriften sorgten im alten Wallis unserer Vorfahren für eine einheitliche und unitäre Persönlichkeitsbildung. Nötigenfalls wurden böse Geister losgelassen, um die Querschläger zur Räson zu bringen.

Wenn das frühere unitäre, religiöse Selbst sich verabschiedet, davon erzählt Sabine Haupt, Professorin an der Universität Freiburg, in ihrem Roman „Lichtschaden. Zement“. Der Roman spielt im traditionellen und konservativen Wallis. Der Protagonist heisst Raffaele. In Gluringen im Goms steht das Haus seiner Kindheit. Aus Norditalien kommend, hatte sich Raffaeles Vater hier niedergelassen. Zusammen mit seinem Bruder Angelo verbrachte Raffaele eine Kindheit, die von unheimlichen Ereignissen geprägt war.

Angelo hält sich und seinen Bruder Raffaele für „gefallene Engel“, er möchte die „Drähte kappen“ zu den Dämonen, die ihn, seinen Bruder und die ganze Familie bedrängen. Als die dämonischen Gedanken in Übergriffen auf seinen Bruder Raffaele gipfeln, wird Angelo in das Psychiatriezentrum Brig eingeliefert.

Trotz dieser unheimlichen Kindheit im Oberwallis erstrahlt das Goms im Roman immer wieder in einem wundervollen Licht und animiert zum Liebesspiel. Am schönsten erscheint den Liebenden das Wallis in der Dämmerung.

„Und wenn die Nacht kommt, zeichnen die Hochalpen ihre schroffen Konturen hinein, Gipfel und Felsköpfe wie Tierköpfe, Fratzen, monströse Leiber, an deren Flanken die spärlich erleuchteten Dörfer wie dünne Girlanden hängen, ärmlicher Christbaumschmuck, verloren in der Finsternis der nächtlichen Felsen. „Zieh‘ mich aus“, sagte sie, „ich möchte, dass wir uns nackt an diesen Berghang schmiegen, als wäre unsere Haut seine Wiese, sein Fell.“ (Aus: „Lichtschaden. Zement“, Seite 123)

Was man früher verstecken musste, darf man heute ausleben: Wir können alles machen. Wir können vieles sein. Wir haben so viele verschiedene Facetten. Allesamt unterschiedlich geprägt durch die Kindheit, das Umfeld.

Neue Lebensentwürfe

Heute hat man die Möglichkeit, diese verschiedenen Facetten zu zeigen. Man kann sein Leben verschieden planen und verschiedene Lebensentwürfe ausprobieren. Früher war das schwieriger. Man hielt sich an die Traditionen und Normen der Dorfgesellschaft. Man hatte wenige Möglichkeiten daraus auszubrechen.

Ende 1960er und anfangs 1970er begannen diese starren Strukturen zu zerbröckeln. Etwas bewegte sich. Es ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Revolutionen und Rebellionen führten zu sozialen, politischen oder gesellschaftlichen Veränderungen. Es kam zu aufgeschlosseneren Lebensgemeinschaften und breiterem Denken.

Viele von uns reisten Ende der Sechzigerjahre auf dem Hippie-Trail nach Indien. Die besten Techniken zur Bewusstseinserweiterung versprachen die indischen Philosophien. Sie lehrten, das Bewusstsein sei das Wesen des „Höchsten Selbst“ (brahman) und bilde die Grundlage für das menschliche Selbst (atman). Was für die indischen Philosophie-Lehrer damals als gesichert galt, ist bis heute ein Rätsel geblieben.

Damals erhofften sich viele von uns eine Erweiterung des Bewusstseins. Manch einer, der in weissen langen Kleidern, mit langem Haar und mit Blumen bekränzt sich nach Osten aufmachte, erhoffte sich, dass sich sein Bewusstsein aus dem Begrenzten zu etwas Weiterem öffnen möge.

Die Leute wurden toleranter gegenüber unkonventionellen, untraditionellen Lebensentwürfen. Immer noch braucht es aber den Mut, Neues auszuprobieren. Jede und jeder von uns hat noch so viele andere Talente, Möglichkeiten, Facetten.

Coming-of-Age-Stories

Wohl auch deshalb wirken die zurzeit angesagten „Coming-of-Age-Stories“ auf uns vertraut und sprechen uns an. Sie erinnern uns an eine Zeit, in der man gekämpft und geliebt hat, Neuland entdeckt und sich schliesslich ins Erwachsensein verabschiedet hat.

Gekämpft, geliebt und Neuland entdeckt. Zu einer gefestigten Persönlichkeit herangereift. Während eines Sommers zum Mann geworden: Der Literaturbestseller „Hard Land“ von Benedict Wells erzählt davon. Handlungsverläufe wie in „Hard Land“wirken auf uns alle vertraut: Alle sind wir auf dem Weg zum Erwachsenwerden schon mal gestrauchelt, sind unter die Räder gekommen und haben uns schliesslich gefangen.

Wie wird aus dem hässlichen Entlein ein wunderschöner Schwan? Der uralte Märchenstoff liegt allen alten und neuen Geschichten über das Heranwachsen zugrunde. Wir alle sind betroffen. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden haben wir allesamt Ähnliches durchgestanden.

Flexible Persönlichkeiten

Namhafte Persönlichkeiten haben uns Flexibilität, Freiheit oder Wandelbarkeit vorgelebt. Auch bekannte literarische Charaktere und Figuren wie Mata Hari, Lolita, Pygmalion, Werther oder der Steppenwolf sind darunter. All diese Protagonisten haben eine Gemeinsamkeit: Sie propagieren eine polarisierende Persönlichkeitsstruktur.

In der Literaturgeschichte finden sich zahlreiche Persönlichkeiten und Protagonisten, die den Menschen den Persönlichkeitswandel vorgelebt haben, lange bevor er in der Gesellschaft angekommen ist. Beispielsweise Hermann Hesses «Steppenwolf». Er macht deutlich, dass jeder Mensch eine geheimnisvolle Seite hat. Diese musste man damals verbergen. Trotzdem war sie schon immer da und ein Teil des eigenen Selbst.

Shakespeare war Hamlet und König Claudius, Ophelia und Polonius in einer Person. Er war Othello und Jago, Falstaff und Prinz Heinz, Shylock und Antonio, Zettel und Titania und das ganze Gefolge von lustigen und traurigen Narren lebte in seinem Inneren. Bereits Shakespeare verspürte diese unwiderstehliche Lust, sich im Spiel seiner Fantasie von einer Gestalt in die andere, von einem Schicksal ins andere, von einem Affekt in den anderen zu stürzen.

Der Rilke-Code

Legte Rainer Maria Rilke in „Malte Laurids Brigge“, seinem einzigen Roman, der in Paris spielt, die Spuren zum Verständnis seiner Dichter-Persönlichkeit?

Der Malte Laurids Brigge, ein Alter Ego des Dichters Rilke, übernimmt die Rolle des Erzählers und diagnostiziert das Symptom eines Krankheitsbildes. Es ist dies eine doppelte Paranoia, die Angst vor der Zukunft einerseits und die Angst vor Entmenschlichung und zunehmender Entindividualisierung andererseits. Als Einzelne stehen wir einer anonymisierten Masse gegenüber. Dies wohl ist der „Rilke-Code“, den die Grossstadt Paris schonungslos enthüllt.

Die Grossstadt, erfüllt mit Gerüchen und Lärm, beschleunigt den Prozess zunehmender Entindividualisierung. Die einzelnen Menschen werden – nach Rilke – noch erfasst als „Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespien hat“ (Malte, 37). Das „Ich“ ist der Grossstadt schutzlos ausgeliefert und steht einer anonymisierten Masse gegenüber.

Das Geheimnis der Muse

Zu einer interessanten Persönlichkeit gehört eine dunkle Seite, ein Geheimnis, ein Mysterium. Sie brachte die grössten Genies ihrer Zeit um den Verstand. Und sie war die Muse und die Traumfrau des Dichters Rainer Maria Rilke: Lou Salomé. Was war das Geheimnis der Muse Lou Salomé?

Rilke war nicht der Einzige, der ihr verfallen war. Der grosse Philosoph Friedrich Nietzsche wollte am Ende nur noch wie ein Paket in einem Zimmer von Lou Salomé abgesetzt werden. Und Sigmund Freud, der Wiener Psychologe und Begründer der Psychotherapie, hatte Lou Salomé vergöttert als die „Versteherin par excellence“. Andere herausragende Männer jener Zeit sind für Lou Salomé gar freiwillig aus dem Leben geschieden.

Konflikte und Kriege

Welche Auswirkungen haben Konflikte und Kriege auf die Persönlichkeit? Auf eine Beziehung? Auf eine Liebe zwischen Mann und Frau? Inmitten der Kriegswirren des Nahost-Konflikts schreibt Zeruya Shalev ihre Romane über die moderne Liebe sprachgewaltig, leidenschaftlich und atemberaubend

Wie kann eine Schriftstellerin, die vor wenigen Jahren bei einem Anschlag eines Selbstmordattentäters erheblich verletzt wurde, weiterhin in einem Land leben und schreiben, das inmitten der Kriegswirren zwischen Palästinensern und Israeli nicht zur Ruhe kommt?

Hin- und hergerissen zwischen Trennung und Zuwendung suchen Frau und Mann nach neuen Möglichkeiten, um die eheliche Zweisamkeit zu retten. „Er hat mich in ein Tier verwandelt, in eine verwundete Bärin, so kann es nicht weitergehen.“ (Aus: „Mann und Frau“ von Zeruya Shalev)

Sich immer wieder neu erfinden

Genies und Multitalente brauchen die Freiheit. Denn nur in Freiheit sind ihre Gedanken Sprengstoff. „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff“, schrieb Friedrich Dürrenmatt.  

Um sich immer wieder neu erfinden zu können, ist die Freiheit der Gedanken vonnöten. Dabei muss jederzeit das Risiko eines Misserfolgs in Kauf genommen werden. Bei Dürrenmatt waren die Misserfolge weit zahlreicher als der Erfolg seines dramatischen Werks. Er habe ins Blaue geschossen und ins Schwarze getroffen, resümiert die Literaturkritik, und legt ihm dabei gerne dieses Zitat aus „Der Richter und sein Henker“ in den Mund. Die Nachwelt ist nicht nachtragend. Mit einigen wenigen Vorzeige-Werken gehört Dürrenmatt heute zum „Schulstoff“.

Suche nach Identität

Eine faszinierende neue Umgebung hat kreative Menschen zu allen Zeiten veranlasst, nach noch unentdeckten Möglichkeiten des eigenen „Ich“ zu suchen. War früher Italien das Land, das romantische Inspiration bot, ist es heutzutage die Küste Südenglands, welche kreative Menschen produktiv werden lässt.   

Die Küste Südenglands ist Schauplatz für grossartige Stücke und für dramatische Produktionen der Weltliteratur. Auf der Suche nach einer neuen Identität bieten die malerischen Landschaften am türkisblauen Meer willkommene Inspiration.

Virginia Woolf, Daphne Du Maurier, Jeremy Seal oder Enid Blyton – die Liste der Berühmtheiten der Weltliteratur, die sich an der Küste Südenglands inspirieren liessen, ist schier endlos. Die eigene geheimnisvolle Stimmung an der Südküste Englands inspirierte viele Autorinnen und Autoren der Weltliteratur.

Teamseminare

Im Teamseminar fällt es leichter, sich Herausforderungen zu stellen und sich an physische und psychische Grenzen heranzutasten. Gezielte Veränderungen der eigenen Persönlichkeit zu erzielen, fällt im Team leichter. Die persönlichen „Soft Skills“ können trainiert werden. Das Teamseminar gilt allerdings nur dann als „geglückt“, wenn es gelingt, Erkenntnisse aus diesem gemeinsamen Erlebnis für den beruflichen Alltag fruchtbar zu machen.

Es geht folglich um den Transfer von fordernden Situationen auf den Alltag. Was zum Beispiel lässt sich in einem Teamseminar lernen? Es sind Lehrsätze wie diese: Nicht immer ist es von Vorteil, so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen. Der schnellste Weg ist nicht immer der beste Weg. Oft birgt der direkte Weg grosse Gefahren. Besser ist es, auf den „Team-Spirit“ zu bauen.

Die spannende Methodik der Teamseminare hat Zukunft, zum Beispiel auch in Kombination mit literarischen Vorgaben, mit Science-Fiction-Ambiente. Beispielsweise das Teamseminar, basierend auf dem Film rund um den Ausserirdischen E.T. Regisseur Steven Spielberg kombinierte darin Elemente des Science-Fiction- und Märchen-Genres. Die Team-Mitglieder müssen sich gemeinsam durch militärisches Sperrgebiet schlagen, High-Tech-Sensoren überlisten und Kampfhubschraubern entkommen, um einen Ausserirdischen zu retten, der in einem Bunker gefangen gehalten wird.

Die Lust nach einer Veränderung und die Freiheit, sich immer wieder mal neu zu erfinden, sind nicht umsonst zu haben. Das Annehmen von Herausforderungen und das Bewältigen von kniffligen Lebenssituationen sind dazu erforderlich. Deshalb sollten wir immer wieder mal an unsere Grenzen gehen, um lebendig, hoffnungsvoll und mutig zu bleiben.

Dieser Beitrag erschien auch im Online-Portal von pomona.media / rro.

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig.