Nach einem feinen Essen pflegen wir zu sagen: Es hat geschmeckt wie ein Gedicht! Auch eine feine Buchpräsentation kann munden wie ein Gedicht. Bestens geschmeckt hat am Donnerstagabend die Vorstellung des Romanerstlings von Sieglinde Kuonen-Kronig in der Bibliothek Mörel. Sympathisch und liebevoll betreut von den Bibliothekarinnen unter der Leitung von Monika Mutter, war das zahlreich erschienene Publikum einhellig der Meinung: Ein Roman wie ein Gedicht!
Wenn ein Roman beginnt wie ein Rilke-Gedicht, dann lässt sich ohne Umschweife von grosser Literatur sprechen. Die Autorin trug die ersten Zeilen ihres Romans „Gelbe Tulpen vor dem Haus“ vor: „Am frühen Morgen machte sich ein erster Wetterumschwung bemerkbar, der das nahe Ende der Jahreszeit erahnen liess. Nach einer wochenlangen Schönwetterperiode, nicht untypisch für den Herbst im Wallis, begann der letzte Freitag im Oktober mit leichtem Regen und deutlich kühleren Temperaturen. Nicole sass mit Sophie im Dorfbistro in Burg, an dem Tisch hinten am Fenster. (…) Sie wären sich vermutlich kaum jemals begegnet, wäre da nicht dieses tragische Ereignis im Frühling gewesen.“ Der Sommer vorbei, der Herbst rauscht ins Wallis, ins Sommerglück mischt sich eine dumpfe Vorahnung von Winterleid? Das kennen wir doch alle auch aus dem Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke:
Sommerglück und Winterleid. Wie Sieglinde Kuonen-Kronig in ihrem Romananfang, so mischte bereits Rainer Maria Rilke in seinem berühmten Gedicht „Herbsttag“ dem zu Ende gehenden Sommerglück eine sich ankündigende Tragik bei: „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los. (…) Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her wandern, wenn die Blätter treiben.“ Sommerglück und Winterleid dient hier als programmatische Ansage für emotionale Beziehungsgeschichten, und zwar für stimmungsvolle Lyrik genauso wie für epische Erzählungen.
„Gelbe Tulpen“ als erzählerisches Kunstmittel. Aus dem Talk, den ich in Mörel mit der Autorin Sieglinde Kuonen-Kronig über ihren Roman „Gelbe Tulpen vor dem Haus“ führen durfte, bedürfen unsere gemeinsamen Erklärungsversuche für den genialen Romantitel einer besonderen Erwähnung. Nein, es handle sich keineswegs um gelbe „Grängjer Tulpen“, schmunzelte die Autorin, obschon sie immer wieder von Leserinnen darauf angesprochen werde. Vielmehr symbolisiere der Neugierde weckende Romantitel eine Episode aus dem Roman: Die Protagonistin Nicole reist aus Zürich zurück ins Oberwallis, in den heimischen Ort Burg, weil ihre Mutter an Herzversagen gestorben ist. Als Nicole sich nur noch von ihrer verstorbenen Mutter verabschieden kann, da fallen ihr die gelben Tulpen ins Auge. Tod und gelbe Tulpen? Die Farbe Gelb symbolisiert das Sonnenlicht, die Erkenntnis, das Gedeihen des Lebendigen. Ob in dieser Situation nicht eher violette Chrysanthemen die passenden Totenblumen wären? Was auf den ersten Blick hin als fieser Gegensatz erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als geschickt angewandtes Kunstmittel. Die Farbe Gelb steht hier für alles Hoffnungsvolle, für das Zuversichtliche, denn nach jedem Schicksalsschlag geht das Leben irgendwie weiter. Aber mehr noch: Bereits in der frühen ägyptischen Kultur stand die Farbe Gelb für das Sanfte, das Sinnliche, das Weibliche. Und „Gelbe Tulpen vor dem Haus“ erweist sich – insbesondere was die Figurenkonstellation anbelangt – tatsächlich auch als ein Frauenroman.
Typisierte Frauencharaktere. Die Romanstory ist gebaut um die Frauencharaktere Nicole, Sophie, Claudia, Michèle und Laura. Es sind dies typisierte Frauenfiguren: Eine Einheimische, eine Eingeheiratete, eine aus dem welschen Kantonsteil Kommende, eine Ausgewanderte, eine aus der Stadt Bern Übersiedelte. Jede dieser Frauenfiguren trägt mit ihrer eigenen Geschichte zur Romankonstellation bei. In der stimmigen Romanstory mischen und berühren sich diese Frauengeschichten. Die Frauen in Kuonen-Kronigs Roman sind lebenserfahren, und sie haben sich mit einem unverhofften Ereignis oder Schicksal auseinanderzusetzen.
Ein Ereignis als Katalysator. In“Gelbe Tulpen vor dem Haus“ funktioniert ein unverhofftes Ereignis wie ein Katalysator. Lassen Sie mich, liebe Leserin, lieber Leser, diese interessante Theorie erläutern. Seit der Antike werden chemische Reaktionen mit Hilfe von Katalysatoren ausgeführt. Der Chemiker Jöns Jakob Berzelius kam 1835 zur Erkenntnis, dass eine Vielzahl von Reaktionen nur erfolgte, wenn ein bestimmter Stoff zugegen war, der jedoch nicht verbraucht wurde. Dieser unbestimmte Stoff wird nicht umgesetzt, er liefert jedoch durch seine Anwesenheit die Energie mittels seiner katalytischen Kraft. Er bezeichnete diese Stoffe als Katalysatoren. Zusammengefasst liesse sich sagen: Die Wirkungsweise eines Katalysators beruht auf seiner Möglichkeit, den Mechanismus einer chemischen Reaktion derart zu verändern, dass die Aktivierungsenergie verändert wird. Man „geht einen anderen energetischen Weg“. Die Literatur hat die Funktionsweise des Katalysators aus der Chemie übernommen. In der Literatur, und insbesondere im Roman, verändert ein Katalysator ebenfalls die Aktivierungsenergie, in diesem Fall der Protagonisten oder Figuren. Häufig funktioniert im Roman ein Schicksalsschlag als Katalysator, der mittels seiner Aktivierungsenergie die Figuren nach einem Schicksalsschlag einen anderen Weg gehen lässt. In Kuonen-Kronigs Roman funktioniert der Tod der Mutter von Protagonistin Nicole als ein solcher Katalysator.
Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Die stimmungsvolle Welt der Gefühle ist es, die eine Romanstory beim Lesen unter die Haut gehen lässt. Am ersten Jahrestag von Marias Tod, der Mutter von Protagonistin Nicole, stehen in Kuonen-Kronigs Roman so Zeilen wie diese: „Nicole brauchte dringend frische Luft und ging nach draussen. Vor dem Haus sah sie gelbe Tulpen, die in voller Blüte standen. Sie fing an zu weinen. Sie weinte um die Mutter und um die Tatsache, dass sie diese nicht mehr um Rat fragen konnte. Ihre Mutter hätte ihr jetzt bestimmt helfen können, hätte sicher die passenden Worte gefunden, welche ihr die Entscheidung erleichtert hätten. Genau in solchen Momenten im Leben brauchte man schliesslich eine Mutter.“ (Gelbe Tulpen vor dem Haus, S. 282).
Text und Fotos: Kurt Schnidrig