Pandemie: Psychologie in der globalen Krise

Der Wissenschaftler Steven Taylor hat die Psychologie einer Pandemie-Gefahr untersucht. In Grossstäden wie New York mit grossen Menschenansammlungen geht die Angst um. (Foto: Kurt Schnidrig)

Gleich vorweg: Unserem Bundesrat und den Vorstehern unseres Gesundheitswesens gebührt Anerkennung. Sie haben schnell begriffen, dass sich die gegenwärtige Pandemie nur eindämmen und besiegen lässt, wenn man auch die Psyche, die Emotionen, die Affekte und vor allem die vorsichtig-optimistische Kommunikation einbezieht. Bundesrat Berset holt sich für seine Botschaften Roger Federer ins Boot. Daniel Koch, der Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten, pflegt einen überzeugenden und kompetenten Kommunikationsstil. In der Krise besteht die grösste Herausforderung darin, Bedrohungen und Risiken weder zu überschätzen noch zu unterschätzen. Das Informationszeitalter mit mannigfachen Medien, die sich gegenseitig als Konkurrenten gegenüberstehen, birgt die Gefahr, dass mit sensationslüsternen und fehlleitenden Botschaften die parallel grassierende Angst-Epidemie befeuert wird. Wer kommuniziert was, wann und wie? Welchen Bedarf an Informationen haben die verschiedenen sozialen Gruppen? Weshalb entstehen überhaupt Ängste, Gerüchte und Verschwörungstheorien? Wie könnten wir uns besser auf Pandemien vorbereiten? Der kanadische Wissenschaftler Steven Taylor legt eine Pionierarbeit vor. Es ist dies ein grossartiger Leitfaden auch für die gegenwärtige Krise. Er liefert fundierte Antworten auf Frage wie diese: Wie gehen wir zuzeiten einer Pandemie mit der Angst um? Wie lassen sich Isolation und Quarantäne ertragen? Wie fahren wir den Stress in Krisenzeiten herunter? (Steven Taylor: The Psychology of Pandemics. Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Disease“. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne, Dezember 2019, 178 Seiten).

Psychische Phänomene einer Pandemie. Es ist eigentlich unerklärlich, dass den Begleiterscheinungen einer Pandemie wie Verunsicherung und Verwirrung im Allgemeinen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für das Management von pandemischen Krisen sei jedoch sozialpsychologische Kenntnis unerlässlich, moniert Steven Taylor in seinem Buch. Was nützt der riesige Fundus an medizinischem Wissen, wenn er die Bevölkerung nicht erreicht? Taylor beackert in seinem Buch ein interdisziplinäres Feld. Die Antworten zu den wichtigsten Fragestellungen lassen sich einzig an der interdisziplinären Schnittstelle zwischen Virologie, Epidemiologie, Immunologie, Soziologie, Verhaltensforschung, Psychologie und Medizingeschichte finden. Wie gehen einzelne Perönlichkeiten, breite gesellschaftliche Schichten, medizinische Insider und Medien mit Pandemien um? Hier füllt Steven Taylors Buch, seine Studie zur Psychologie von Pandemien, eine klaffende Lücke innerhalb der wissenschaftlichen Literatur. Ohne es zu ahnen, hatte Taylor seine Studie zeitgleich mit dem Auftreten der ersten Corona-Fälle in China veröffentlicht.

Viele Begriffe, viel Aufregung. Die Lungenkrankheit Covid-19 stürzt die Medienleute genauso wie breite Volksschichten in ein wahres Begriffs-Chaos. Fast täglich gilt es, neue medizinische, politische und wirtschaftliche Begriffe neu zu lernen. Mittlerweile gängige Begriffe wie „Homeoffice“ werden voraussichtlich Ende des Jahres auf der Liste der „Unwörter des Jahres“ landen. Andererseits kann Wissen auch von unnötiger Angst und Panik befreien. Der Wissenschaftler Steven Taylor erklärt uns in seinem Buch ruhig und ohne falsche Panikmache die wichtigsten Virentypen und Infektionswellen ebenso wie derzeit heiss diskutierte Begriffe wie „soziale Distanzierung“, „Quarantäne“, „Isolation“ oder „Superspreader“.

Aus der Geschichte lernen, das war noch nie eine besondere Stärke der Menschheit. Das trifft auch für die Geschichte der grossen protypischen Pandemien der Vergangenheit zu. Zu Pandemien wie Grippe, Pest und Cholera existieren zahlreiche aufschlussreiche schriftliche Zeugnisse. Daraus liesse sich lernen, wie sich unser Gesundheitssystem besser auf künftige Pandemien einstellen könnte. Steven Taylor entfaltet in seinem Buch ein breitgefächertes Panorama zur Geschichte der grossen Pandemien. Sie lässt sich zurückverfolgen bis ins Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung. Damals begann die Ära der Viehhaltung, und mit ihr gingen auch erstmals Viren von Tieren auf Menschen über, ähnlich wie sich dies – nach aktuellem Informationsstand – im vergangenen Dezember auf dem Markt im chinesischen Wuhan ereignet haben soll. Der menschliche Organismus ist nun mal auf derartige Viren-Attacken nicht vorbereitet. Diese Tatsache führte auch schon damals zu Unverständnis und damit verbunden zu Mythenbildung, Gerüchten und Verschwörungstheorien.

Gerüchte und Verschwörungstheorien, wie sie auch heutzutage durchs Netz geistern, gab es auch schon in früherer Zeit, nur in anderer Form. Anfangs mussten mythische Erklärungen her, um das Unerklärliche plausibel darzustellen. Pandemien und tödliche Krankheiten schrieb man dem Zorn der Götter und Geister zu. Der Aberglaube trieb sein Unwesen, Sündenböcke mussten her und das Geschäft mit der Quacksalberei blühte. Auch Uneinsichtige und Unbelehrbare gab es schon damals. In seinem Buch erzählt Steven Taylor die Geschichte der „Typhoid Mary“. Sie ist wohl der erste bezeugte „Superspreader“ der Geschichte. Heute würde man sie als „Patient 0“ bezeichnen. Bei der „Typhoid Mary“ soll es sich um eine Köchin aus New York gehandelt haben. Sie hatte sich mit Typhus infiziert und soll in den Jahren zwischen 1902 und 1909 mehr als fünfzig Menschen in den Restaurants, in denen sie gearbeitet hatte, angesteckt haben. Sie hatte es damals nicht geschafft, sich einzugestehen, dass sie infektiös war. So musste schliesslich die New Yorker Polizei einschreiten und die Frau in Isolationshaft verwahren. Zwar hat der wissenschaftliche Fortschritt inzwischen weiter zugelegt. Doch sind auch heute noch viele Menschen aufgeschlossen gegenüber Gerüchten und Verschwörungstheorien. Oder sollte man dafür den unsäglichen Ausdruck „Fake News“ verwenden? Der Kampf gegen derartige Angstmacherei und Panikmache ist ebenfalls Bestandteil der „Psychologie in der globalen Krise“.

Text und Foto: Kurt Schnidrig