Schulbeginn trotz Pandemie. Die Corona-Krise wird der Digitalisierung einen weiteren Schub geben. In der Schweiz werden digitale Skills im Jobmarkt eine noch grössere Rolle spielen. Es werden sich auch neue digitale Berufsprofile etablieren. Bei all der Digitalisierung und all den technischen Skills muss der Mensch jedoch auch weiterhin im Mittelpunkt bleiben. Menschliche Kreativität, Organisation, Leadership sowie kritisches und analytisches Denken ist durch keine Maschinen zu ersetzen. Das Symposium „Zeitzeichen – Bildungsimpulse aus Gondo“ kreierte im vergangenen Spätherbst vielversprechende Ansätze für den Einbezug der digitalen Revolution in unsere Bildungslandschaft – und dies kurz bevor die Corona-Epidemie auch Digitalisierungs-Muffel zum Umdenken zwang.
Die digitale Bildungsrevolution verändert die Schulen und Bildungsinstitutionen auf allen Stufen und verlangt nach neuen Konzepten in der Grund- und Weiterbildung. Diese digitale Transformation in der Bildung ist entgegen der landläufigen Meinung nicht in erster Linie ein technologisches Problem, sondern vielmehr eine pädagogische und didaktische Herausforderung. Wir brauchen neue didaktische Konzepte. Und wir müssen uns die Frage stellen, wie wir die digitalen Technologien nutzen wollen. Die Digitalisierung eröffnet für die Bildung neue Möglichkeiten und Chancen, wenn wir die neuen Technologien zweckmässig einsetzen. Mit spannenden und lebhaften Ausführungen über den „virtuellen Lernraum“ begeisterte der Hazu-CEO Andy Abgottspon am Symposium „Zeitzeichen“, initiiert und begleitet von Zeitforscher Ivo Muri. Michael Zurwerra hatte das Symposium nach Gondo in den Stockalperturm geholt, die TV-Sendung dazu wird schweizweit wahrgenommen und sendet wichtige Signale aus, die unsere künftige Bildungslandschaft prägen werden.
„Wir werden nur dann erfahren, was in uns steckt, wenn wir den normalen Weg verlassen. Dazu gehört die Kombination von E-Learning und Präsenzunterricht.“
Michael Zurwerra, Rektor der Fernfachhochschule Schweiz
Als im vergangenen September nicht weniger als 331 Absolventinnen und Absolventen der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) in Brig ihr Diplom entgegennehmen durften, wies Rektor Zurwerra darauf hin, dass wir nur dann erfahren, was in uns steckt, wenn wir den normalen Weg verlassen. Die FFHS gilt als Vorreiterin der E-Didaktik in der Schweiz. Ihr Studienmodell kombiniert E-Learning mit Präsenzunterricht und bietet Berufstätigen, die parallel zum Job ein Studium absolvieren möchten, die so wichtige und nötige zeitliche Flexibilität. Auch für Stars aus dem Spitzensport oder aus dem Showbusiness ist dieses Modell oft die einzige Möglichkeit, ein Studium während der Sportkarriere abzuschliessen. So konnten kürzlich auch Snowboard-Olympiasieger Nevin Galmarini in Betriebsökonomie und Eishockey-Goalie Leonardo Genoni in Business Administration ihr Diplom entgegennehmen. Ab 2021 baut die FFHS zusammen mit der FernUni den neuen Hochschulcampus in Brig.
„Blended Learning“. Die neuen Lernformen werden uns alle vor grosse Herausforderungen stellen. Dazu gehört etwa das Vermitteln der digitalen Kompetenz, das Überbrücken der digitalen Leistungskluft, das Vorantreiben der digitalen Gerechtigkeit und der Umgang mit dem sich stetig wandelnden Wissensstand. Hat der Mensch im Wettlauf gegenüber der Maschine denn noch eine Chance? Der Mensch ist kreativ, intuitiv, flexibel, emotional und improvisierend. Die Maschine dagegen ist schnell, genau, objektiv und neutral. Es kommt darauf an, für welche Aufgaben eine Lösung gefordert ist. Je nachdem rückt der Mensch oder die Maschine ins Zentrum. Entsprechend räumen Spezialisten auch dem bisherigen klassenraumbasierten Lernen weiterhin Chancen ein, dies allerdings in Kombination mit dem E-Learning. Fachleute favorisieren eine Kombination der Vorteile von beiden Lehr- und Lernformen, was sich mit dem Begriff „Blended Learning“ zusammenfassen lässt.
Persönliche Stellungnahme. Fast vierzig Jahre war ich mit Leib und Seele Lehrer und Dozent. In einigen Punkten sehe ich mich von den derzeitigen Bildungsfachleuten bestätigt. Dazu gehört etwa das klare Bekenntnis zum projektartigen Lehren und Lernen, das ich zu meiner Zeit als Pädagoge zu allen Zeiten gelebt und geliebt habe. Dazu gehört auch die Forderung, dass Schule nicht ständig „topdown“ reformiert werden darf. Vorbehalte habe ich gegenüber einigen Formen des Technologie-gestützten Lernens. Niemals dürften wir die Pädagogin oder den Pädagogen ersetzen durch einen Avatar. Beizupflichten ist jedoch dem Bemühen, das Online-Lernen mit dem klassenraumbasierten Lernen zu kombinieren.
Wird die Digitalisierung auch unser Leseverhalten verändern? Einiges spricht dafür. Ingenieure entwickeln Lesebrillen und Lesegräte, die mit Infrarotlicht unsere Augenbewegungen beim Lesen präzis vermessen. So weiss der Text zu jedem Zeitpunkt, auf welches Wort die lesende Person gerade fixiert ist. Wer bei einem Begriff hängen bleibt, dem kommt das System zu Hilfe und erklärt alles Nötige.
Vorstellungskraft animieren. Wenn ich einen Roman lese, kann das System meine Vorstellungskraft animieren. Wenn meine Augen über eine Zeile gleiten, tauchen Bilder auf und ich höre Töne. Ein Beispiel? Ich lese das Wort „Südseeinsel“. Jetzt sehe ich ein Bild von einem Strand und ich höre dazu die Brandung des Meeres. Doch bei all dem Respekt vor diesen technischen Errungenschaften ist die Furcht vor dem Absterben der eigenen Phantasie allgegenwärtig.
Schneller lesen. Die Digitalisierung bewirkt auch, dass man ein Buch ohne grössere Probleme in zwei Stunden lesen kann. Im Durchschnitt schaffe ich als Leser etwa 210 Wörter in der Minute. Die Augen springen von einem Fixationspunkt im Text zum nächsten. Dieser Prozess lässt sich mit Hilfe einer Lesesoftware schneller machen. Mit ihrer Hilfe schaffen wir bis zu 700 Wörter pro Minute. Das Buch „Der Prozess“ von Franz Kafka schafft eine geübte Leserin mit Hilfe der neuen Lesesoftware in 43 Minuten; „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi in einer Stunde.
Vielversprechende Lesetrends, aber… wir müssen mit erheblichen Nachteilen rechnen. Mit der schnellen neuen Lesesoftware ist keine eigene Reflexion über das Gelesene mehr möglich. Ist schneller immer besser, wie dies die Digitalisierung im Geschäftsleben verspricht? Vielleicht trifft dies zu für Geschäftliches und Administratives. Doch bestimmt ist Digitalisierung fehl am Platz für so grossartige Literatur wie „Der Prozess“ von Kafka und „Krieg und Frieden“ von Tolstoi.