Der Schulhausroman als Erfolgserlebnis

Mit Rolf Hermann sprach ich über das Projekt „Schulhausroman“, das er in der OS Leukerbad durchgeführt hatte. (Foto: Kurt Schnidrig)

Was nur ist in unseren Schulen los? Kürzlich enervierte sich der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss, dass seine Kinder während neun Jahren Schule kein einziges Buch gelesen hätten. Dem Lehrplan 21, der lediglich das Wie des Unterrichtens beschreibt, jedoch keinerlei Inhalte vorschreibt, wird die Schuld zugeschoben. Die Folgen dieses vermuteten Bildungs-Skandals sind verheerend. Wertvolle Kompetenzen gehen verloren. Es fehlt an gemeinsamen Lektüre-Erfahrungen. Den jungen Menschen fehlen die Lesetechniken und damit auch die Fähigkeit, ein mehrseitiges Werk zu lesen. Zusammen mit den mangelnden Lesekompetenzen gehen auch die Schreibkompetenzen verloren. Wollen wir in ein paar Jahren zu einem Volk von funktionellen Analphabeten mutieren, die gerade noch mit Mühe die Whatsup-Nachrichten entziffern und die Bildchen auf Instagram betrachten können? „Früher war Literatur wie Bergsteigen, heute ist es ein Runterrutschen“ formulierte kürzlich die Wiener Autorin Eva Menasse in Leukerbad.

Hilfe muss von aussen kommen! Zur Diskussion steht die Idee einer ausserschulischen Verankerung des Lesens und Schreibens. Es brauche eine personelle wie auch inhaltliche Distanz zum schulischen Alltagsbetrieb, fordern Literatinnen und Literaten. Mit diesem methodischen Ansatz wurde bereits im Jahr 2005 das „Projekt Schulhausroman“ begründet. Schweizweit liegt die Projektleitung aktuell in den Händen der „Gemeinnützigen Gesellschaft für Kulturprojekte“, die unter dem Namen „Die Provinz GmbH“ mit Schriftsteller*innen zusammenarbeitet. Diese sollen als „Schreibcoaches“ in Klassen der unteren Leistungskategorien, vor allem in der Sekundarstufe I, mit dem Schreiben von sogenannten „Schulhausromanen“ auch sprachliche Kompetenzen – mündlich wie schriftlich – fördern. Als Zielpublikum für das Schreiben von Schulhausromanen kommen insbesondere Jugendliche in Frage, deren schulische Leistungen als defizitär eingestuft werden, und die häufig nicht den von den Schulen gestellten Anforderungen genügen.

Christine Pfammatter hatte das Projekt „Schulhausroman“ in der OS Leuk durchgeführt. (Foto: Kurt Schnidrig)

Rolf Hermann und Christine Pfammatter als Schreibcoaches. Die als Schreibcoaches fungierenden Autor*innen müssen erste Ideen für eine gemeinsame Geschichte zunächst einmal provozieren. Es gilt, Voraussetzungen zu schaffen, damit die Jugendlichen zu erzählen und zu schreiben beginnen. Danach müssen die Schreibcoaches die Resultate synchronisieren und kombinieren. Das Synchronisieren und Kombinieren geschieht telweise ausserhalb der Schulstunden. Die Schreibcoaches fügen die Textbausteine zusammen und stellen den dabei entstandenen neuen Text beim nächsten Klassenbesuch zur Diskussion. Ein explizites Ziel ist es, am Ende eine abgeschlossene Textfassung zu besitzen. Die Jugendlichen sollen sich damit identifizieren können und für das Geschriebene auch Verantwortung übernehmen.

Acht Doppel-Lektionen für ein gedrucktes Buch. „Persönlich war ich für den Teil des Projekts in Leukerbad verantwortlich“, erzählte mir Rolf Hermann. „Ich bin achtmal in die Klassen gegangen und habe dabei jeweils eine Doppel-Lektion gehalten. Wir haben einen Text geschrieben, der wie ein Roman wirken soll. Christine Pfammatter arbeitete auf gleiche Art und Weise in der OS Leuk. So sind zwei Texte entstanden, die jetzt auch in Buchform herausgekommen sind. Natürlich sind sie auch im Handel erhältlich.“

Der zweiteilige Schulhausroman der OS Leukerbad (Rolf Hermann) und der OS Leuk (Christine Pfammatter): „Liebe ist ein Glücksspiel“ und „Karma is a Bitch“, Schulhausroman Nr. 125/126, 124 Seiten, ISBN 978-3-907217-36-8

„Liebe ist ein Glücksspiel“. Der Roman nimmt die Geschichte vom „Grünen Mann“ auf, der in einer Leukerbadner Sage herumgeistert. In der Romanstory der Leukerbadner Schulklasse ist er zu einem Casinonbesitzer mutiert, der Millionen in die Renovation des Torrent-Hotels investiert und es zu einem „Green Casino“ ausgestaltet. Zu diesem Zweck ist er mit seiner Tochter Shanti nach Leukerbad gezogen. Shanti bekundet vorerst Mühe, sich mit dem Dorf Leukerbad und seinen Bewohnern anzufreunden. Doch dann begegnet sie Remo. Remo ist der Sohn eines alkohol- und spielsüchtigen Leukerbadner Bauern. Shanti und Remo verlieben sich. Die Verliebten schlagen auch eine Brücke des Vertrauens und des Verständnisses zwischen ihren beiden Familien. Sie stehen zueinander und helfen sich gegenseitig trotz all der Unbill und der Widerwärtigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellen.

„Karma is a Bitch, oder: Wer hets gjättut?“ Protagonisten in diesem Schulhausroman sind Norman, Samuel, Luca, Alex und Luc. Die fünf sind eine richtige Bande. Sie sorgen für Stress und für Aufregung. Nur Alex ist eher ein besonnener Junge, der einzig deshalb bei der Bande mitmacht, weil er sich sonst als ein Aussenseiter und Sonderling fühlt. Wieder einmal haben sie Zwistigkeiten mit dem Schul-Abwart und bekommen dessen Ärger zu spüren. Die Bande wartet mit einem teuflischen Plan auf. Als dann der Abwart nach dem grossen Weinfest in Varen vermisst wird, kommt nach und nach eine grausige Tat ans Tageslicht…

Schüler*innen machen „offizielle Kultur“. Im Konzept der Schulhausromane ist vorgesehen, dass jede Klasse im Rahmen einer öffentlichen Lesung in einem Kulturinstitut ihren Text vorstellt. Dabei geht es um das Sichtbarwerden der Schreibenden. Das kreative Spannungsfeld des Schulhausromans kommt auch zustande durch das Zusammentreffen von Vertreter*innen der „offiziellen Kultur“, also der aussenstehenden professionellen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mit Jugendlichen aus oftmals bildungsfernem Umfeld. In Leukerbad diente das Literaturfestival als eine adäquate Plattform zur Präsentation der beiden Schulhausromane.

„Indem so unter der Anleitung ein eigener Schulhausroman erarbeitet wird, kommen Schülerinnen und Schüler zu einem Erfolgserlebnis in einem Bereich, der für sie sonst von Versagensängsten und Niederlagen geprägt ist: Durch das Mitgestalten eines längeren Erzähltextes wird ihr Selbstbewusstsein im sprachlichen Ausdruck gestärkt. Die Schüler erleben, wie ihre Ideen von den Autoren aufgenommen und damit ernstgenommen werden, und dass diese Ideen literarisch interessant, also etwas wert sind.“

Das pädagogische Ziel des Schulhausromans. Aus: https://schulhausroman.ch/

Die Grundidee des Schulhausromans stammt vom Schweizer Autor Richard Reich und von der Germanistin und Lektorin Gerda Wurzenberger. Die Idee besteht darin, dass Autor*innen im Rahmen einer festgelegten Anzahl von Klassenbesuchen gemeinsam mit den Schüler*innen einen fiktionalen Text schreiben, und zwar ausgehend von einer ersten Idee bis zum druckreifen Manuskript. Bereits haben in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich gegen hundert Schreibcoaches mit mehreren tausend Schüler*innen über 200 Schulhausromane verfasst. Jeder Schulhausroman ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Die Verantwortlichen sprechen von einem Kunstprojekt mit schulischem Kontext.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig; mehr dazu auf https://schulhausroman.ch/