Zwar gehen die Leute nicht mehr in die Kirche, aber sie fangen wieder an, jeden Humbuk zu glauben. Eine zweite Aufklärung tue not: Beda Stadler präsentierte seine Thesen zu Vergangenheit, Zukunft, Position und Perspektiven des Menschen in der Buchhandlung ZAP in Brig. Streitbar zwar wie immer, diesmal jedoch beinahe widerspruchslos. „Will mir denn niemand an den Karren fahren“, fragte der Autor des Buches „Wir zwei für die Zukunft“ fast ein wenig enttäuscht in die Runde.
Das Besondere an seinem neuen Buch: Die Leserinnen und Leser sind dazu aufgerufen, nach jedem der mehr als zwanzig Kapitel auf eigens dafür vorgesehenen Seiten ihr Einverständnis abzugeben oder es abzulehnen, und sei es auch nur teilweise, unter Vorbehalten, mit Ergänzungen oder mit Bemerkungen. „Wir sind voll technisiert und digitalisiert, und die Menschen beginnen wieder an Mondphasen zu glauben, an Aromasteine, jeder Gugus ist gut und recht“, kritisiert Beda Stadler. Während der Corona-Pandemie seien rundum Theorien aufgekommen und auch in Amerika würden Leute behaupten, es gebe alternative Fakten, sagt Beda Stadler im Exklusiv-Interview für pomona.media. „Die Wissenschaft hat einen schlechten Ruf bekommen“, weiss Beda Stadler. „Wir sollten wieder zurück zur Wissenschaft finden.“ Unser Hirn habe gute Dienste geleistet. „Alles, was uns Menschen ausmacht, ist in den letzten 300 Jahren entstanden. Nun braucht es eine zweite Aufklärung.“ Dies das gut dokumentierte Plädoyer des Autors.
Beda Stadler erinnert an die erste Aufklärung: Sie sei zu einer Zeit gekommen, als die Leute nicht mehr wussten, was wahr ist und was Fakt. Langsam sei die Wissenschaft aufgekommen, und es habe mehr Erkenntnisse gegeben. Die erste Aufklärung (1720 – 1800) habe vieles in Bewegung gesetzt: Bessere Hygiene, Impfungen, Antibiotika, Schmerzausschaltung, DNA-Struktur, Keimtheorie, Empfängnisverhütende Mittel, Evidenzbasierte Medizin, Computer… Und jetzt? Jetzt müssten wir über die Bücher und wir sollten uns fragen: Wohin geht eigentlich die Reise?
Wohin aber könnte eine Aufklärung 2.0 führen? Die erste Aufklärung ist ja gescheitert, es gab eine Gegenbewegung, liesse sich argumentieren, es folgte der Sturm und Drang, die Romantik… Hat das Volk nicht doch ein Bedürfnis nach dem Irrationalen? Beda Stadler geht zwar auf Distanz zu spirituellen Themen, so ganz abgeneigt zeigt er sich jedoch nicht mehr. Hat er in seinen extremen Positionen zurückbuchstabiert?
Spiritualität habe er vorerst nur über die Religion kennengelernt, gesteht Beda Stadler. Später habe er dann aber Spiritualität in der Esoterik und im Aberglauben kennengelernt. „Da habe ich die Nase gerümpft!“, schaut er zurück. Da seien jedoch philosophische Ansätze, die er auch gutheissen könne. „Wenn man sich eine Berglandschaft ansieht, frisch verschneit, sieht das wunderprächtig aus.“ Will heissen: Es gibt viele Dinge, die zu einer spirituellen Erfahrung führen können, sie müssen jedoch nicht unbedingt religiös sein. Auch ein hartgesottener Atheist habe Freude an einem schönen Sonnenaufgang. Es gebe vielerlei Erlebnisse, die zu einer spirituellen Erfahrung führen, weiss Beda Stadler. „Die Erlebnisse müssen aber nicht unbedingt religiös gefärbt sein oder eingebunden in irgendein System, das uns das Geld aus der Tasche zieht.“ Vielmehr brauche es ein System, das uns garantiert: Spiritualität ist in uns drin!
So erlebe er Glücksgefühle in der Musik. „Ich lebe noch in den Oldies“, schwärmt Beda Stadler. „Ich betrachte ein Bild von einem Künstler und sage: Mir gefällt das Bild! Ich weiss jedoch nicht, weshalb. Es ist meine Spiritualität, die sagt: „Das gefällt mir!“ Diese Art von Spiritualität sollten wir mehr und mehr fördern, ist Stadler überzeugt. Auch in den Schulen! Einfach Freude haben am Leben, das Schöne schön sein lassen, aber auch mal den Mut haben und sagen: Das ist jetzt aber potthässlich! Auf den Punkt gebracht: Es gibt Spiritualität, er sei da überhaupt nicht dagegen, sagt Beda Stadler. Spiritualität sollte aber nicht „bei interstellaren Herrschern“ anfangen, sie sollte vielmehr in uns selbst ihren Ursprung haben.
Unsere Affen-Gene lassen uns zuweilen am Guten im Menschen zweifeln. „Wir haben noch viele Gene von den Affen“, weiss Beda Stadler. „Wenn man sich ein wenig umsieht, was in der Welt so alles abgeht…“, und er erinnert an den ehemaligen US-Präsidenten: „Ich glaube erst wieder an ein Rechtssystem, wenn der im Gefängnis ist.“ Aber auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Russland, stehe nicht alles zum Besten. „Die Russen haben plötzlich wieder angefangen mit einem Krieg, und sie drohen sogar mit einem Atomkrieg.“ Beda Stadler resümiert: „Deshalb sollten wir zurück zur Wissenschaft. Die Wissenschaft mache zwar Fehler, aber sie sei bereit, aus den Fehlern zu lernen. „Warum nicht die Wissenschaft benutzen, um uns selbst letztlich zu verbessern?“, fragt Stadler. Sein Buch sei ein Aufruf, dass man vom Homo sapiens zu einem Homo hominis wechseln sollte, also zu einem vernünftigeren, besseren Menschen. Den Glauben daran möchte er nicht aufgeben.
„Religion vergiftet die Welt“, dieses Zitat hat Autor Beda Stadler von Christopher Hitchens übernommen, einem britisch-US-amerikanischen Autor und Journalisten. Hitchens engagierte sich Zeit seines Lebens vehement für eine säkulare Weltsicht und machte Religion für zahlreiche Missstände und Fehlentwicklungen in der heutigen Welt verantwortlich. «Christopher Hitchens ist eines von meinen Idolen“, sagt Beda Stadler. „Wenn man heute genau hinsieht, wer mit wem streitet, dann geht’s meistens um die Religion. Vielleicht bräuchten wir ein besseres Lebensmodell, basierend auf einer gesunden Philosophie.“ Wir müssten einen Konsens unter den Menschen finden, ist Beda Stadler überzeugt. „Jeder weiss: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Das sei ein biologisches Programm und komme nicht von der Religion. Es wäre ein Ideal, wenn man nach diesem Motto leben würde.
Sein Buch „Wir zwei für die Zukunft“ sei ursächlich durch den Neurologen und Philosophen Sam Harris und dessen Buch „The Moral Landscape“ beeinflusst, sagt Beda Stadler. Nach Sam Harris weiss jeder Mensch, was gut und was schlecht ist. Er benutzt das Bild einer Bergspitze. Jedes Kind könne sofort feststellen, was die Spitze des Berges und was ein Tal sei. Das Tal sei Metapher für das Schlechte und die Spitze des Berges für das Gute. Nun gelte es zu entscheiden: Wann hört das Tal auf und wo fängt der Berg an? Es liessen sich andere moralische Grundsätze formulieren, Grundsätze, die in uns selbst liegen, und die man mit Hilfe der Wissenschaft nachvollziehen könne.
Ein junger Philosoph, Michael Schmid Salomon, habe seine Bewunderung erregt, sagt Beda Stadler: Michael Schmidt-Salomon, Vertreter eines evolutionären Humanismus, habe ihn überzeugt. Von ihm habe er gelernt, dass der Mensch drei Dinge zum Leben brauche: Wissenschaft, Kunst (Spiritualität) und Philosophie.
Früher sei er ein hartgesottener Naturwissenschaftler gewesen, er habe ob der Philosophie nur die Nase gerümpft, gesteht Beda Stadler. Aber heute wisse er, dass es auch die Philosophie brauche. „Die Fragen, welche die Philosophen stellen, liessen sich wissenschaftlich überprüfen, und dies trage dann letztlich auch zu einer besseren Welt bei.
Bräuchten Politiker*innen einen Fähigkeitsausweis? Sind politische Wahlen ein Garant dafür, dass wir die besten Leader an die Spitze befördern? Beda Stadler gibt sich im WB-Interview skeptisch. „Wir haben weltweit die besten Beispiele, dass Wahlen zurzeit einfach nur dubiose Figuren, solche, die nun wirklich einen Knall in der Schüssel haben, an die Spitze spülen. Seit langem krankt unser Wahlsystem daran, dass intelligente und gute Leute nicht mehr in die Politik gehen. Für viele ist es eine Chance, an die Macht zu kommen. Solange Politik mit Macht assoziiert ist, werden wir Probleme haben“, lautet seine klare Ansage.
Was ist der Grund für dieses politische Malaise? „Es braucht einfach keine Prüfung, um Politiker zu werden“, fasst Stadler zusammen. Fürs Autofahren brauche es ein Permis, für jeden anständigen Beruf einen Ausweis, einen Lehrabschluss oder einen Studienabschluss. Es brauche überall einen Fähigkeitsausweis. „Nur die Politik braucht das nicht, jede und jeder kann einfach sagen: Ich bin der Grösste und der Schönste!“
Hungernde Kinder statt Klimawandel? „Wenn wir uns alle auf den Klimawandel fokussieren, dann schafft dies ein gewaltiges Problem“, ist Beda Stadler überzeugt. „Ich bin mir nicht sicher, ob jemand, der sich auf die Strasse klebt, auch wirklich einen Lösungsvorschlag hat. Hunger bekämpfen kostet, sich auf die Strasse kleben kostet nichts.“ Wir müssten die Prioritäten neu setzen und uns fragen: Was ist eigentlich menschlich? Solange Menschen verhungern und Geld vorhanden ist, sollten wir zuerst diesen Menschen helfen, ist Stadler überzeugt.
„Jetzt, in dieser Sekunde, ist irgendwo auf der Welt wieder ein Kind verhungert. Das müsste doch eigentlich die erste Priorität sein, dass wir jene Probleme und Themen angehen, die wir auch zu lösen imstande sind. Solange Menschen verhungern und wir Geld haben, sollten wir zuerst diesen Menschen helfen.“
Beda Stadler in der Buchhandlung ZAP*Brig
Die Migrationspolitik sei ebenfalls enorm wichtig. Wir alle seien früher mal vom Norden in den Süden gewandert. Wer sich uns entgegenstellt hatte, den hätten wir verjagt und umgebracht, blickt Stadler zurück. Jetzt kommen viele aus dem Süden zurück. Sie erwarten bei uns eine neue und bessere Welt. Jetzt dürfen wir nicht sagen: Wir haben diese Völker über Jahrhunderte ausgebeutet, jetzt sollen sie dableiben, wo sie sind. Die Frage stelle sich: Inwieweit sind wir bereit zu teilen?
Die leeren Seiten sind die wichtigsten. Das Schreiben am Buch habe damit angefangen, dass er vielen aus seinem Verwandten- und Bekanntenkreis die Frage gestellt habe: Bitte erzähle mir etwas von deinem Urgrossvater. Er habe kaum jemanden gefunden, der noch etwas von seinem Urgrossvater gewusst habe. Wir sollten vermehrt wieder die Familie in den Fokus rücken, rät Beda Stadler, und uns die Frage stellen: Woher kommen wir eigentlich? „Wir stammen zwar alle vom Affen ab, aber die Grosseltern sind interessanter“, sagt Stadler, und er fährt fort: „Heute wissen viele über die schlechtesten Schauspieler Bescheid, aber sie haben keine Ahnung von ihren Grosseltern, von ihrem Grossvater.“ Er wünschte sich, dass seine Enkel nach seinem Ableben später einmal ein Buch öffnen, lesen und sagen können: „Ah, der Grossvater hatte so und so getickt!“ In diesem Sinn möchte Beda Stadler sein neues Buch auch als ein Geschenkbuch verstanden wissen.
Beda M. Stadler: Wir zwei für die Zukunft. Ein Buch zum Verschenken. Cameo Verlag GmbH, Bern 2023, 190 Seiten. ISBN 978-3-03951-023-8
Text, Interview, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig