Seit 25 Jahren schreibt Wilfried Meichtry. Hatte er sich bis anhin mit gut recherchierten Romanen und Sachbüchern einen Namen geschaffen, verarbeitet er nun in seinem neuen Buch auch einen eigenen Stoff aus früheren Zeiten. Dabei scheint ihm der Buchtitel recht zufällig in den Schoss gefallen zu sein. Der Ausspruch „Nach oben sinken“ soll ein angetrunkenes Leuker-Original getan haben, als er sich von den Dorfbaronen im Restaurant „Krone“ verabschiedet habe, verrät Meichtry. Beim Sinnieren über den Ausspruch „Man kann auch nach oben sinken“ gerät man ganz schön ins Grübeln und Nachdenken, meint der Autor. Zumindest sei „Nach oben sinken“ für seinen Verleger ohne zu zaudern der perfekte Buchtitel gewesen.
Das Schweigen der Erwachsenen sei damals nur schwer zu ertragen gewesen, schreibt Meichtry. Die Kinder stellten Fragen, der Vater redete jedoch nicht viel, die Mutter habe zumindest zuweilen alte Schlager gesungen. Man habe jedoch grundsätzlich „in der Gewalt eines mächtigen Schweigens“ gelebt. Einzige Ausnahme sei Maya gewesen, die Grossmutter. „Sie erzählte mich gesund“, blickt der Ich-Erzähler zurück. Und Grossmutter hatte viel zu erzählen. Von Johann Schaller etwa, dem Sakristan, der früher als Fremdenlegionär diente. Alle liebten Maya, nicht zuletzt auch ihrer Witze wegen. „Wäre Grossmutter nicht gewesen, wäre ich schon viel früher geflüchtet“, gesteht der Erzähler in Meichtrys Buch.
Die Sehnsucht nach einem anderen Leben begleitete nicht nur die Heranwachsenden, sondern auch die Eltern. Bei den Eltern habe sich die Sehnsucht nach einem anderen Leben manifestiert in TV-Sendungen wie „Einer wird gewinnen“ oder „Teleboy“, wo eine heile und erstrebenswerte Welt vorgegaukelt wurde. Oder in alten Schlagern, welche die Mutter vor sich hin summte:
Ein Schiff wird kommen,
Schlager von Caterina Valente, auch gesungen von Wilfried Meichtry und dem Publikum in der ZAP Brig.
und das bringt mir den einen,
den ich so lieb‘ wie keinen,
und der mich glücklich macht.
Ein Schiff wird kommen,
und meinen Traum erfüllen
und meine Sehnsucht stillen,
die Sehnsucht mancher Nacht.
Schlagertexte wie „Ein Schiff wird kommen“ liefen ab Kassette im Kassettenrecorder. „Ich kann sie heute noch alle, diese Schlager“, schmunzelt Autor Wilfried Meichtry. Für den Ich-Erzähler waren jedoch auch die Romane des damals angesagten Reiseschriftstellers Karl May ein Segen. „Das Lesen stellte mein Leben auf den Kopf“, erzählt Meichtry offenherzig. Die Karl-May-Bücher habe er sich verdient als Kranzträger bei Beerdigungen. Neun Franken fünfzig habe ein Karl-May-Buch damals gekostet. Drei Franken habe er als Kranzträger bei einer Beerdigung verdient. „Da können Sie sich selbst ausrechnen, wie viele Menschen sterben mussten, bis ich mir wieder ein Buch leisten konnte…“, sagt Meichtry augenzwinkernd. „Das Leben musste so organisiert werden, dass viel Zeit zum Lesen blieb.
Mit Wilfried Meichtry habe ich mich vor seinem Auftritt in der Buchhandlung ZAP Brig über sein neues Buch unterhalten:
Kurt Schnidrig: Herr Meichtry, Ihr Buch „Nach oben sinken“ spielt vor allem in der Zeit der 1970er Jahre. Damals hatte die katholische Kirche im Wallis noch viel Einfluss. Nicht selten versuchten junge Leute auszubrechen. Auch der namenlose Ich-Erzähler in Ihrem Buch versucht auszubrechen aus der Enge seines Tales. Auf welche Art und Weise war dies damals möglich?
Wilfried Meichtry: Es war natürlich auch schon damals immer möglich, wegzuziehen. Für den Ich-Erzähler in meinem Buch – ich darf schon sagen, dass er mit mir verwandt ist – war es aber schwierig. Die entscheidende Fluchtrichtung für meinen Ich-Erzähler wurden die Literatur, das Lesen, die Bücher, die Fantasie und die weite Welt, in der es viel zu entdecken gab.
Kurt Schnidrig: Sie sagen „Der Ich-Erzähler ist mir verwandt“. Als Kind wächst der Ich Erzähler am Hexenplatz in Leuk auf. Also ist Ihr Buch doch autobiographisch?
Wilfried Meichtry: Ja, das möchte ich auch gar nicht bestreiten. Das Buch hat viele autobiographische Züge. Aber es ist ein Roman, einiges ist wahr, anderes ist nicht wahr. Mir ist es darum gegangen, eine Story zu bauen. Für mich ist zentral, dass es nicht um die Frage geht: Ist diese oder jene Episode wahr? Für mich war das Entscheidende einzig das Atmosphärische, das Emotionale, die Stimmung, die Fremdheit, die der Ich-Erzähler erlebt gegenüber der Aussenwelt. Das alles war ein Gefühl, das ich kenne, das aber auch viele andere kennen, ein Gefühl, das mich erst zum Schreiben gebracht hat.
Kurt Schnidrig: Allzuviel wollen wir vom Inhalt nicht verraten, aber vielleicht doch so viel: Ihr Buch handelt von Tabu-Themen. Ein Tabu-Thema war mit Bestimmtheit das Schweigen. In Ihrem Buch kommt der Protagonist zum Schluss, dass jeder Mensch ein „Sprechkonto“ hat, und dass diesem Sprechkonto jedes Wort, das man sagt, abgezogen wird. Diese Aussage empfinde ich denn doch als eine etwas überspitzte Aussage…?
Wilfried Meichtry: Ja, natürlich! Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich dieses Bild vom „Sprechkonto“ in meinem Kopf hatte, vielleicht nicht mehr als Jugendlicher, aber noch als Kind. Weil die Erwachsenen so wenig gesprochen hatten, und weil ich als Kind doch ein Bedürfnis zu sprechen hatte, ist in meinem Kopf das Bild entstanden: Es könnte ja sein, dass es ein Sprechkonto gibt, dass man also mit seinen Worten sparsam umgehen muss, so dass man mit 40 Jahren nicht verstummt.
Kurt Schnidrig: Sie, Herr Meichtry, kennt man vor allem aufgrund Ihrer perfekt recherchierten Bücher. Handelt es sich bei Ihrem neuen Buch demnach jetzt um eine andere, um eine neue Art von Literatur, die Sie angehen?
Wilfried Meichtry: Ich glaube nicht, dass es sich bei meinem neuen Buch um eine neue Art von Literatur handelt. Ich musste auch für mein neues Buch recht viel recherchieren. Allerdings ist das Buch viel persönlicher, es ist ein Ich-Erzähler vorhanden, sowas habe ich in dieser Art tatsächlich noch nie gemacht. Ich hatte viel Lust, Vieles zu verarbeiten, sei es nun aus dem eigenen Leben oder aus Geschichten, die mir andere Menschen erzählt haben. Es handelt sich um Dinge, die mich in den vergangenen 25 Jahren beeindruckt haben, da ist natürlich einiges zusammengekommen. Ich muss auch sagen, dass ich grosse Lust hatte, auch mal zu fabulieren. Natürlich fand ich das Andere, das Bisherige, auch sehr spannend, zum Beispiel meine Recherchen über Franz von Werra, Recherchen, die nicht an der Oberfläche blieben, sondern die in die Tiefe gingen. Oder auch meine Recherchen zu Peter von Roten: Was war das eigentlich für eine Geschichte? Was war das für eine Beziehung? Warum ist Iris von Roten nicht „angekommen“? Derartige Fragen haben mich natürlich auch fasziniert. Das Buch „Nach oben sinken“ hatte ich eigentlich schon lange schreiben wollen, denn es handelt sich dabei um einen „Urstoff“ aus meinem Leben. Es sind mir aber bisher immer wieder andere interessante Geschichten dazwischen gekommen.
Kurt Schnidrig: Wir empfehlen Ihr Buch von Herzen gerne und wünschen Ihnen weiterhin eine erfolgreiche Lesetour.
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig