„Sinkende Sterne“ – der neue Wallis-Roman von Spycher-Preisträger Thomas Hettche

Im Roman hat ein Bergsturz das Rhonetal in ein Katastrophengebiet verwandelt. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

„Sinkende Sterne“, der neue Roman des ehemaligen Spycher-Preisträgers Thomas Hettche, spielt im Oberwallis. Man darf wohl davon ausgehen, dass mit dem Titel „Sinkende Sterne“ auch der Untergang des Wallis mit seinen 13 Bezirken und 13 Sternen im Wappen gemeint sein könnte. Die Roman-Story beginnt damit, dass ein Bergsturz im Wallis den Rotten aufgestaut und etliche Seitentäler überflutet hat.

Die überlebenden Oberwalliserinnen und Oberwalliser nutzen die katastrophale Situation, um sich ganz abzuschotten vom Rest der Welt und um sich loszulösen von den französischsprechenden Unterwallisern. Der Ich-Erzähler im Roman heisst Thomas, er trägt damit denselben Vornamen wie der Autor. Thomas hatte auf der Universität gelehrt und musste seine Entlassung entgegennehmen. Er habe sich als Lehrer unzeitgemäss verhalten, wurde ihm beschieden. Er habe sich geweigert, seine Vorlesungen zusätzlich mit Gender-Kursen zu bereichern.

Thomas hat nun plötzlich Zeit, ins Wallis zu reisen, wo das Ferienhaus seiner Eltern steht. Der Autor nimmt die Abgeschiedenheit im Wallis zum Anlass, seinen Protagonisten nachdenken zu lassen über Themen wie Ästhetik und Kulturkritik. Im Wallis wird Thomas zum Zeugen tiefgehender Umwälzungen.

Das Wallis sagt sich los vom Rest der Welt. Die Gegend rund um das Haus des Protagonisten Thomas verwandelt sich in ein Katastrophengebiet, ausgelöst durch Erdrutsche. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt. Dadurch wird das Wallis zurückgeworfen in eine mittelalterliche und bedrohliche Welt.

Der Autor gibt sich erfinderisch, er gibt seiner Phantasie reichlich Ausgang. Was zuerst vollkommen realistisch und nachvollziehbar beginnt, entwickelt sich zu einer märchenhaften Erzählung. Im Katastrophengebiet Wallis tauchen plötzlich dämonische Wesen auf. Figuren aus alten Sagen und Legenden haben ihren Auftritt, so etwa Sindbad und Odysseus. Der Gratzug, die Prozession der Toten, marschiert wieder über die Bergkämme und durch Schluchten. In den Walliser Alpen kapselt sich eine Gesellschaft von ihrer Umgebung ab.

Der Roman wirkt thematisch etwas gar überladen. Der Roman „Sinkende Sterne“ wartet mit vielen interessanten Themen auf. Der Autor büschelt und bringt auf den Punkt, was das heutige Wallis beschäftigt. Ist der Autor der Versuchung erlegen, allzu viel problematische Gegenwart in seine Romanstory hinein zu verpacken? Dieser Fragestellung sehen sich die Lesenden gegenübergestellt. Das Werk gewinnt dadurch jedoch auch an Vieldeutigkeit.

Die thematische Dichte lässt mehrere verschiedene Interpretationen zu. Ist es ein Liebesroman? Ist es ein Fantasy-Roman? Oder ist es gar ein queerer Roman, der Fragen aufwirft nach der geschlechtlichen Identität? Auf jeden Fall legt uns Thomas Hettche ein magisches Buch vor, einen vielschichtigen Roman. Ein Buch auch, das uns beim Lesen etliches abfordert. Der Roman lädt zum Mitdenken ein.

Literaturtheoretisch begeistert der Autor durch sein enormes Schöpfungs-Potenzial und durch seine Kreativität. Sie erheben das Werk zu einem Meilenstein der heutigen, modernen und aktuellen Literatur.

Hören Sie dazu den Podcast aus der Sendung „Literaturwälla“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof / Simon Kalbermatten)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig