Livia Anne Richard: „Anna der Indianer“

Bei einer Begegnung an Fronleichnam in Bern durfte ich mich mit Livia Anne Richard unterhalten über ihren Roman-Erstling und über ihre Pläne. (Foto: Kurt Schnidrig)

Hoch über den Dächern von Bern und mit Blick auf „ihren“ Theaterberg, den „Güschä“, den Gurten, durfte ich mich an Fronleichnam ausgiebig mit Livia Anne Richard unterhalten. Wir sprachen über ihre Pläne und vor allem auch über ihren Roman-Erstling „Anna der Indianer“. Am vergangenen Wochenende waren meine Gespräche mit Livia Anne Richard und ein Literaturtipp zu „Anna der Indianer“ auf Radio Rottu Oberwallis im Live-Programm zu hören. Die Podcasts dazu finden Sie am Schluss dieses Beitrags.

Neuland betreten. Mit ihren Produktionen auf dem Gurten und auf Riffelberg oberhalb von Zermatt hat sie sich weithin einen Namen geschaffen, mit „Dällebach Kari“ etwa oder mit „The Matterhorn Story“. Nun hat Livia Anne Richard nochmals Neuland betreten – diesmal als Roman-Autorin. Mit Rückblenden und mit Regressionen, vor allem aber mit idyllischen Kindheitsmustern, zeichnet sie im Roman „Anna der Indianer“ die Entfaltung ihrer Protagonistin bis ins Erwachsenenalter nach. Der Roman gerät so zu einer eigenwilligen Entwicklungsgeschichte, die dazu ermutigt, gesellschaftliche Fesseln zu sprengen und das Denken in Schwarz-Weiss-Bildern aufzubrechen.

Livia Anne Richard: „Anna der Indianer“. Roman. Cosmos Verlag 2020. Muri bei Bern, 131 Seiten.

Sich selber sein dürfen. Die Protagonistin Anna im Roman „Anna der Indianer“ lässt sich nicht in irgendwelche Muster oder Klischees hineinpressen, die andere für sie im Leben vorgesehen haben. Ihre italienische Nonna etwa, die das alte Rollenverhalten vertritt. Eine Frau soll Knöpfe annähen, abstauben, bügeln. Ein Mädchen soll nicht pfeifen, nicht Fussball und nicht Indianerlis spielen wie die Jungs. Eine Frau soll vielmehr einen guten Sugo kochen können. Derart angelegten und vorbestimmten Mädchen- und Frauenbildern verweigert sich Anna. Weder die geliebte Nonna, noch die alleinerziehende Mutter, weder die Kindergärtnerin noch die Spielkameraden des Quartiers können Anna daran hindern, mutig und tapfer ihren eigenen Weg zu gehen und nötigenfalls ihn sich auch zu erkämpfen wie der Indianerhäuptling Winnetou. Trotzdem ist „Anna der Indianer“ kein feministisches Buch. Es geht vielmehr um das einfachste und wichtigste Menschenrecht: Es geht darum, sich selber sein zu dürfen, sich selber immer wieder neu erfinden und weiter entwickeln zu dürfen. „Anna der Indianer“ ist trotz des umstrittenen Debattier-Themas jedoch keineswegs allzu ernst geschrieben, sondern in einem humorvollen Ton erzählt, vor allem aber auch befeuert durch eine befreiende und wohltuende Situationskomik.

„Auf dem Weg zum Frausein kämpft sich Anna wie weiland Winnetou durch einen Dschungel von Hindernissen und Mutproben.“

Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Corinne Amacker

Ein Potpurri von Ideen. Auf der Suche nach der eigenen Realität entwickelt Anna wunderbar kreative Visionen, wie ihre eigene Abenteuergeburt ins Selbständigsein-Wollen vonstatten gehen könnte. Annas Vater entpuppt sich als Kuckucksvater, er ist also nicht ihr leiblicher Vater. Für Anna ist dies zunächst zweifellos eine traumatische Erkenntnis. Im Verlauf der Geschichte erkämpft sich Anna jedoch ihren eigenen Weg. Dabei schaut sie weder nach links noch nach rechts. Anna kämpft sich wie weiland Winnetou durch einen Dschungel von Hindernissen und Mutproben. Insbesondere während eines Kalifornien-Aufenthalts erwacht sie zu einer Erwachsenen. Auf dem Weg zum Frausein erlebt sie den alltäglichen Rassismus, auch Drogen- und Alkoholprobleme bei ihren Gefährtinnen und Gefährten, drohender sexueller Missbrauch in der Gastfamilie, aber auch das Aufflammen der ersten Liebe in mannigfachen Spielarten. Anna geht ihren Weg jedoch nicht egoistisch. Anna ist keine Selbstdarstellerin. Sie entwickelt vielmehr ihre eigenen Ideen und Visionen, wie sie ihr Dasein gestalten und formen möchte. In Annas Leben spielt die Vater-Tochter-Geschichte also nicht eine derart beherrschende Rolle. Trotz Annas komplexem Naturell hält der Roman mit der Auflösung eines Geheimnisses einen überraschenden und versöhnlichen Schluss für sie bereit.

„Wir müssen alle unseren Kopf lüften, neue Ideen generieren und „abfahren“ mit so alten Fragestellungen wie: Was ist typisch Mann, was ist typisch Frau? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist schwarz, was ist weiss?“

Livia Anne Richard im Gespräch mit Kurt Schnidrig

Erst beim Schreiben sei ihr bewusst geworden, welche Botschaft ihr Buch eigentlich vermittle, verriet mir Livia Anne Richard im persönlichen Gespräch. Diese Botschaft versuche sie im zweiten Buch, an dem sie nun arbeite, noch stärker rüberzubringen. „Wir müssen alle unseren Kopf lüften, neue Ideen generieren und „abfahren“ mit so alten Fragestellungen wie: Was ist typisch Mann, was ist typisch Frau? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist schwarz, was ist weiss?“ Und dann gibt sich Livia Anne Richard kämpferisch, fast genauso wie ihre Protagonistin Anna im Roman. Alle Welt ruft zurzeit „Black lives Matter“, da könne sie nur antworten: What else? Warum ist sowas heute noch nötig? Darum geht es auch in „Anna der Indianer“. Wie lassen sich all die Fesseln sprengen, die uns die Gesellschaft anlegt? Diese Befreiung gesteht Anna auch den Männern zu. In diesem Sinne ist „Anna der Indianer“ kein feministisches Buch, sondern vielmehr ein überzeugendes und motivierendes Buch, das die starren und überkommenen Mann-Frau-Rollen hinterfragt.

Hören Sie den Buchtipp zu „Anna der Indianer“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Corinne Amacker)
Livia Anne Richard über ihre gegenwärtige Situation und über ihre Pläne. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig